Der Geruch des Lebens – Eine Roadnovel durch Syrien

Erik Altdorfer: Der Geruch des Lebens – Eine Roadnovel durch Syrien

Khaled Khalifa ist einer der wenigen syrischen Autoren, die nicht im Exil leben. Seine Romane sind in Syrien nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich.

Die Idee zu seinem ersten jetzt auf Deutsch erschienenen Roman Der Tod ist ein mühseliges Geschäft hatte der Autor, als er 2013 einen Herzinfarkt erlitt, auf der Intensivstation lag und sich vorstellte, was nach seinem Tod geschehen würde: Seine Familie würde versuchen, den Leichnam von Damaskus in ihr Dorf nördlich von Aleppo zu bringen. «Ich dachte an diese Reise, wie hart sie sein würde. In dieser Zeit hatten die Leute in Syrien keinen Platz für ihre Toten, ihre Lieben. Sie liessen die Leichen in den Strassen, in den Gärten liegen, das war sehr hart für mich.»

Zwei Jahre später, 2015, wird der Roman in einem libanesischen Verlag veröffentlicht. Die ursprüngliche Idee findet sich im Plot wieder und macht ihn zu einer Roadnovel durch das kriegsversehrte Land.

Damaskus–Aleppo: Eine Reise von knapp 400 Kilometern, in Friedenszeiten (laut Google Maps) in weniger als fünf Stunden zu bewältigen. In der Nähe von Aleppo, neben seiner Schwester will der alte Abdallatîf begraben werden. Das ist sein letzter Wunsch, bevor er in Damaskus eines natürlichen Todes stirbt. Bulbul, sein ältester Sohn, verspricht ihm, diesen letzten Willen zu erfüllen. Zusammen mit seinen Geschwistern Hussain und Fatima macht sich Bulbul in Hussains Minibus auf die Reise, im Glauben, noch am Abend das Ziel zu erreichen. Eisblöcke kühlen die Leiche nur notdürftig. Die Reise wird schliesslich vier Tage dauern, vier lange Tage durch unzählige Checkpoints mit Regierungssoldaten, Rebellen, Islamisten, Kriminellen und jungen Männern, die längst nicht mehr wissen, auf welcher Seite sie stehen. Die drei werden beschimpft, eingeschüchtert, erpresst, ausgenommen und verhaftet. Zugleich befinden sie sich in einem Wettlauf gegen die Verwesung der Leiche. Das Eis schmilzt und bald vermag selbst Kölnischwasser den Gestank nicht mehr zu übertünchen. «Sie atmeten den Tod des Vaters ein, wie nie jemand zuvor den Tod eines geliebten Menschen eingeatmet hatte.» Wenn sie die Fenster öffneten, wurden sie von streunenden Hunden angegriffen, die der Verwesungsgeruch angelockt hatte. «Wer einmal Menschenfleisch gekostet hat, kann es nicht mehr vergessen.»

Bulbul, arabisch für Nachtigall, ist die Hauptfigur, ein Antiheld, der seinen eigenen Schatten fürchtet. Im Gegensatz zu ihm hatte sein Vater für die Revolution gekämpft und als Siebzigjähriger noch die Frau seines Lebens gefunden. Bulbul durchschaut mit Bitterkeit seine eigene Mittelmässigkeit. Er hatte Philosophie studiert, obwohl offensichtlich war, dass bloss die Parteiideologie nachgebetet wurde. Sein Abschluss brachte ihn nicht weiter als zu einer Magazinerstelle bei einem Lebensmittelgrossisten, und er verbringt sein Leben damit, dem Regime keine Angriffsfläche zu bieten. Lamja, seine grosse Liebe bleibt unerreicht, er begnügt sich mit einer biederen Ehe. «Mit der Reise wollte Bulbul den Mut finden, den er in seinem Leben nie hatte», kommentiert Khaled Khalifa in einem Interview.

Es ist offensichtlich, dass hier ein Autor seine Figuren und die Handlungsorte kennt. Er schreibt aus dem Krieg heraus – und berichtet nicht aus der Distanz. Und so nimmt er auch uns Mitteleuropäer mit auf diese Reise ins Kriegsgeschehen der letzten Jahre.

«Als ich anfing, das Buch zu schreiben, habe ich mir vorgenommen, über alle Details des Krieges zu schreiben. Dieses ganze traurige und verrückte und durch und durch überraschende Leben. Im Krieg kannst du alle Facetten des Lebens direkt neben dir finden. Die Widrigkeiten, die Bulbul und seinen Geschwistern im Roman widerfahren, sind mit der aktuellen Situation im Land vergleichbar. Vielleicht wäre eine solche Reise heute noch schlimmer. In Syrien ist alles möglich. Ich schreibe einen Roman. Aber in Syrien sieht man viel Surreales, das ist kaum vorstellbar, aber wahr. Jeden Morgen haben wir dieses surreale Leben vor uns», führt der Autor weiter aus.

Und tatsächlich. Einmal wird die Leiche als Warentransport an einem Checkpoint durchgewinkt, um dann beim nächsten als Terrorist verhaftet zu werden. Der Name des Vaters steht noch immer auf der Fahndungsliste der Regierung. Kurz vor dem Ziel, im Norden, werden sie von ausländischen Islamisten einer Religionsprüfung unterzogen. Bulbul fällt durch, kommt in Haft und wird erst befreit, als ein Onkel den Wächtern verspricht, für die Unterweisung in die Grundlagen der religiösen Pflichten besorgt zu sein. Während Bulbuls Abwesenheit zerfällt die Leiche weiter, platzt auf und als Maden hervorkriechen, verstummt seine Schwester Fatima für immer.

Aber auch so hatten sich die Geschwister auf der langen Reise wenig zu sagen. Pragmatisch versuchen sie, den letzten Willen des Vaters zu erfüllen und zweifeln zunehmend an der Sinnhaftigkeit ihres Unterfangens. Das makabre Zusammenleben in diesem Minibus, das lange Warten vor den Checkpoints öffnet Raum für Erinnerungen und innere Auseinandersetzungen mit der familiären Vergangenheit.

«Sich den Erinnerungen hinzugeben ist das Beste, was man tun kann, um den Wunden dieser Erinnerungen zu entfliehen. Ihre Wiederholung nimmt ihnen Weihe und Würde. Dann strömt der Schmerz über und versinkt in der Erde.»

Und hier, in den Innenwelten schwingt eine ganz andere, eine poetische Tonlage mit. Während die Aussenwelt auf oft absurde Art brutal ist, werden die Figuren in ihren Gedanken und Gefühlen nahbar, fern von jeder Exotik oder Heroik. Eine Familie zwischen Tradition und Moderne, die den verheerenden Kriegsalltag zu bewältigen versucht, traurige Gestalten, die nur mehr darauf warten, dass es zu Ende geht: diese Reise, dieser Krieg, dieses Leben. «Der Tod ruft wirklich keine Emotionen mehr wach, er ist eher eine Erlösung, die den Neid der Lebenden weckt.»

Dieses Geflecht von historischer Realität auf der äusseren Handlungsebene und Gefühlswelten von Durchschnittsmenschen, zugleich lakonisch distanziert und empathisch nah, in beidem präzis in der Beschreibung, diese zwei Tonspuren verschmelzen zusammen mit Momenten, in denen Galgenhumor anklingt zu einem Requiem auf ein Land, das längst verloren ist. Es mündet in die erschütternde Schlussszene, als Bulbul wieder in seiner Wohnung in Damaskus ankommt. «Auch er war jetzt nur noch ein Kadaver. […] Er ging ins Schlafzimmer, verkroch sich in seinem Bett: eine Riesenratte, die in ihren alten Bau zurückgekehrt ist, ein Wesen, das niemand braucht und dessen man sich ohne Mühe entledigen konnte.»

Khaled Khalifa
Der Tod ist ein mühseliges Geschäft.
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2018. 220 Seiten.