Mario Bernet: Vor der Fussball-WM gelangten ab und zu einige Panini-Bilder in meine Hände. Diese leitete ich an einen elfjährigen Nachbarsbuben weiter, der die Übergabe jeweils mit einem Freudentanz quittierte. Nicht so an einem Nachmittag im Mai: Diesmal nahm er die Ration nicht persönlich entgegen, seine Mutter führte mich ins Wohnzimmer. Er sass vor dem Fernseher, in der Hand die Spielkonsole. Auf dem Bildschirm sah ich, wie sich eine Figur den Weg durch eine Ruinenlandschaft freischoss. Die Mutter zuckte mit den Schultern. «Nichts zu machen», meinte sie, «wenigstens kämpft er als Frau.» Was fällt dir dazu ein?
Rudolf Isler: Wir alle werden den gleichen Reflex haben: Dem Bub tut das nicht gut – und die Mutter hat schon aufgegeben, wenn sie sich auf den Gendererfolg zurückzieht. Aber du sprichst eine zentrale Frage an: Sollen und können wir unsere Kinder vor problematischen Einflüssen dieser Welt behüten? Jede Pädagogik hat darüber nachgedacht.
Bernet: Betreten wir diese Untiefen: Schau dir mal auf Youtube «Fortnite Battle Royale Trailer» an. Was sagst du dazu, wenn der Reflex verraucht ist?
Isler: Ein wirklich primitives Shooter-Game – und es gibt noch unerfreulichere! Der Pädagoge Dietrich Benner würde für die Mutter des Buben fordern, die Transformation von gesellschaftlicher in pädagogische Determination zu überdenken. Er meint damit, dass sie und mit ihr wir alle immer abschätzen müssen, wie viel an gesellschaftlicher Realität wir unseren Kindern zumuten, vor welchen Übeln wir sie schützen wollen und wie wir damit umgehen, dass wir sie nur bedingt behüten können.
Bernet: Ist eindeutig, was Behüten hier bedeutet: Eingreifen, das seltsame Vergnügen aus dem Wohnzimmer verbannen?
Isler: Warum nicht? Aufwachsen ohne Fernseher, Game-Zeit einschränken – all diese Versuche scheinen mir nicht falsch. Zugegeben, unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Die bürgerliche Familie ist Geschichte! Aber was schlägst du vor, gewähren lassen?
Bernet: Bei mir zu Hause hat dieses Spiel nichts zu suchen. Eine solche Form von Belustigung ist unangebracht. Dass sie auch schädlich ist, würde ich nicht behaupten. «Kennt der Einzelne nicht das Böse, so ist das ein Mangel an Einsicht.» Dieser Satz ist von Schleiermacher, dem Paten des pädagogischen Konzeptes des Behütens. Das klingt entlastend, nicht wahr?
Isler: Gar nicht! Ich kann auf die Statements der Unterhaltungskonzerne verzichten, wonach mediale Gewalt ohne Einfluss sei. Natürlich gibt es widersprüchliche Untersuchungen, aber klar scheint, dass auch in dieser Frage die sozial Schwachen, die Ungebildeten, die Bindungslosen im Nachteil sind. Ihnen tun wir keinen Gefallen, wenn sie Luzifer kennenlernen. Von ihren Familien ist wenig zu erwarten, die Gesellschaft muss sie vor allzu martialischem Unfug bewahren. Paternalismus statt Liberalismus! Der Markt ist kein Selbstläufer.
Bernet: Ich widerspreche dir nicht. Der mediale Unsinn ist aber wie in dem von mir geschilderten Beispiel auch in den wohlbehüteten Stuben angekommen. Und doch bleibe ich optimistisch und glaube, dass die Jugend diesen Unsinn früher oder später durchschaut – mit unserer Unterstützung.
Isler: Deine Kinder schon, andere nicht!