Ruedi Isler: Gegen Ende seines Studiums hat mich einmal ein eher bildungsresistenter Student ganz unvermittelt angesprochen. Er hat mir mitgeteilt, dass der einzige Fortschritt in seinen drei Jahren Lehrerbildung darin bestanden habe, dass er nun drei Jahre älter sei. Es war kein guter Student, er glaubte nur, dass er schon alles wisse. Für andere mag sein Statement jedoch stimmen. Gibt es nicht geborene Lehrerinnen und Lehrer, die eigentlich eine nur ganz minimale Ausbildung bräuchten?Mario Bernet: Nein, die gibt es nicht.
Isler: So klar, die Sache?
Bernet: Unmittelbar nach der Matura und Rekrutenschule konnte ich im Thurgau ein Vikariat an einer dritten Sekundarklasse übernehmen. Im Fach Geschichte ging es um die Euphorie in Deutschland zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Das lief ganz passabel. Aber was ich inhaltlich und didaktisch geboten hatte, war eine zufällige Mischung: Ich wollte es anders machen als die langweiligen Geschichtslehrer im Gymnasium, konnte ein solides Lehrmittel einsetzen, und schliesslich hatte ich noch die Rekrutenschule in den Knochen. Mir geht es um dieses Zufällige! In der Lehrerbildung wird der Zufall der eigenen Biografie zwar nicht ausgeräumt, aber immerhin sublimiert.
Isler: Meinst du mit «sublimiert», dass in den Schulen genau das zur Praxis wird, was wir hier lehren?
Bernet: Nein, ich wollte betonen, dass die eigene Person und die eigene Geschichte so etwas wie den Rohstoff für den Lehrberuf bilden. Dieser Rohstoff wird im Studium nicht verbraucht, sondern veredelt. Klingt das zu pathetisch?
Isler: Es tönt schön – aber die Wirkung unserer Ausbildung scheint mir wenig berechenbar. Ob und wie sich Lernbiografie, Überzeugungen und Vorurteile verändern, hat immer etwas Unberechenbares an sich. Dass eine durchkomponierte Ausbildung zwingend wirkt, widerlegt mein Anfangsbeispiel. Für Naturbegabte hingegen wäre eine kürzere Ausbildung möglich oder eine mit weiterführenden Schwerpunkten und Wahlmöglichkeiten. Mein Student wiederum bräuchte ein individuell auf ihn zugeschnittenes Programm. Fazit: nicht Einerlei für alle!
Bernet: Bezüglich der Ausgestaltung der Studiengänge bin ich nicht sehr versiert, aber ich bin etwas skeptisch, was die Wirkung curricularer Kunstgriffe anbelangt. Wer soll entscheiden, was wichtiger ist: Fachdidaktik, Erziehungs- und Sozialwissenschaft, Recht und Ethik, Berufspraxis? Das ist alles bedeutsam im Lehrberuf. Entscheidend ist doch, wie es vermittelt wird, nämlich herausfordernd und einladend. Aber klar: Ohne Bildungshunger läuft gar nichts, und der lässt sich nicht einfach herstellen.
Isler: Lieber Kollege, dauernd predigen wir die Individualisierung. Ich wünschte mir in unseren Studiengängen für bereits gut Ausgerüstete vielfältigere Möglichkeiten – und für schwer Erreichbare viel Engagement und Beharrlichkeit auf unserer Seite. Tröstlich immerhin, dass wir als Ausbildner dazu neigen, unsere Wirkung zu überschätzen. Das bewahrt unser Selbstbild vor gröberer Beschädigung.
Bernet: Wozu wir hingegen nicht neigen sollten: die Studierenden zu unterschätzen. Diese Faustregel ist bekanntlich immer ratsam, wenn es um Bildung geht.