Der Mathematikunterricht hat sich stark gewandelt. Neue Unterrichtsmethoden fokussieren auf das Verständnis von Zahlen, Operationen und mathematischen Zusammenhängen und setzen dazu auf flexible Lösungsstrategien. Dies soll auch negative Erfahrungen mit Mathematik verhindern.
Dem Mathematikunterricht eilt ein belastender Ruf voraus. Mathematik gilt als schwierig, trocken und kalt. Und während sich kaum jemand damit brüstet, Schwierigkeiten in der Muttersprache zu haben, erntet unter Umständen sogar Sympathiepunkte, wer erzählt, in der Mathe eine Null gewesen zu sein. «Mathematik gehört nicht in den Kindergarten», lautete folglich der gesellschaftliche Kanon, als 2002 an der neu gegründeten PH Zürich das erste Mathematikmodul für den Kindergarten durchgeführt wurde. «Hinter der Meinung, dass Mathematik nicht kleinkindgerecht sei und Kinder überfordert, stecken oft negative persönliche Mathebiografien», sagt Beatrice Noelle, Dozentin für Mathematik auf der Kindergartenstufe an der PH Zürich und damalige Leiterin des Moduls. Die Mathematikförderung im Kindergarten soll jedoch gerade mithelfen, solche Erfahrungen mit Mathematik zu verhindern. Dies, indem positive Erlebnisse mit Mathematik ermöglicht und dadurch gute Grundlagen für das Lernen auf den höheren Stufen geschaffen werden.
«Der Mathematikunterricht in der ersten Klasse baut auf Fähigkeiten auf, die nicht alle Kinder ohne eine gezielte Förderung im Kindergarten mitbringen», erklärt Beatrice Noelle. Dazu gehören das sichere Zählen, ein Verständnis von «mehr und weniger», «grösser und kleiner», «hinten und vorne» oder von einfachen Teilmengen, etwa dass zwei Finger ein Teil von fünf Fingern an der Hand sind. «Kinder, die solche grundlegende Fähigkeiten beim Eintritt in die Primarschule nicht mitbringen, haben später häufig grosse Schwierigkeiten im Mathematikunterricht», sagt Noelle.

«Bei der Gestaltung von Mathematikaufgaben beziehe ich die Klasse mit ein. Wenn die Schülerinnen und Schüler einen persönlichen Bezug zum Thema schaffen können, erleichtert dies den Zugang.» Lynn Huwyler, Studentin auf der Sekundarstufe I Alle Fotos: Alessandro Della Bella
Erste Erfahrungen mit Mathematik
Seit 2008 schreibt der Lehrplan für den Kanton Zürich eine systematische, zielorientierte Mathematikförderung im Kindergarten vor. Im Lehrplan 21 wird der Aufbau der zu erwerbenden Kompetenzen nun noch klarer dargestellt. Ziel ist es, allen Kindern auf spielerische Weise Grunderfahrungen mit Zahlen und Ziffern, Mustern und Grössen sowie Formen und Bewegungen im Raum zu ermöglichen. So suchen Kinder etwa mit einer Schnur im Zimmer nach Dingen, die gleich lang sind, und entwickeln durch die Erfahrung, dass ganz unterschiedliche Dinge gleich lang sein können, ein erstes Gefühl für Grössenverhältnisse. Vieles lernen die Kinder auch durch gegenseitiges Beobachten. Unternimmt die Lehrperson etwa mit ihrer Klasse einen Spaziergang, auf dem die Kinder auf Schildern, an Häusern oder auf Autos Zahlen suchen, lernen Kinder oft beiläufig von anderen, was eine Zahl und was ein Buchstabe ist. Die Lehrperson korrigiert dabei lediglich Fehler und achtet darauf, korrekte Begriffe zu verwenden.
«Wichtig ist, dass Mathematik von Beginn an korrekt stattfindet», sagt Noelle. Wenn Kinder beispielsweise mit einer Schnur ein Dreieck legen sollen oder indem sie zu dritt auf dem Boden liegen, entwickeln sie kaum eine korrekte Vorstellung eines Dreiecks, weil sie auf diese Weise keine richtigen Ecken bilden können. «Zum Teil wird Mathematik verkleidet, um sie vermeintlich kindgerecht zu gestalten», sagt Noelle. Wird die Zwei beispielsweise als zusammenhängende Kirsche, die Drei als Kleeblatt und die Vier als Auto eingeführt, ist dies eher hinderlich für das Verständnis der Beziehungen zwischen diesen Zahlen. Dabei ist eine solche Verkleidung gar nicht nötig, da Kinder grosse Freude am Abzählen, Ordnen und Gruppieren von Knöpfen oder Herbstblättern, an Symmetrieerkundungen mit einem Handspiegel oder einfachen Verkaufsspielen haben.
Inzwischen hat die Mathematikförderung in vielen Kindergärten Einzug gehalten, wobei sich auch eine Kehrseite dieser Etablierung zeigt. Bei Kindergartenbesuchen sieht Noelle öfter, wie Kinder am Tisch sitzend Arbeitsblätter lösen. «Formaler Mathematikunterricht ist nur in sehr seltenen Fällen gerechtfertigt», sagt sie. Besser eignet sich ein spielerischer Unterricht mit handfesten Gegenständen (siehe Box Seite 14).

«In meinen Praktika haben sich die Kindergartenkinder mit viel Freude mit mathematischen Themen befasst. Die Aufgaben gestalte ich so, dass möglichst alle Kinder entsprechend ihrem Niveau daran arbeiten können.» Jessica Favaro, Studentin auf der Kindergartenstufe
Individuelle Lösungswege
Auf der Primar- und Sekundarstufe wird dem handelnden Erforschen im Mathematikunterricht heute ebenfalls viel Raum gegeben. Bei der Einführung von Prozentzahlen experimentieren Jugendliche in der Sekundarstufe beispielsweise mit einem elastischen Gummiband, auf dem Prozentzahlen von 0 bis 100 Prozent eingezeichnet sind. Wenn sie erkennen, wie sich die zehn Prozent auf dem Band mit der Länge des gestreckten Gummibandes verändern, fördert dies das Verständnis, was mit einer Prozentzahl ausgedrückt wird. Mit dieser Erfahrung, dass sich die Prozentzahl relativ zur Gesamtmenge verhält, werden die Schülerinnen und Schüler später leichter verstehen, weshalb eine Preisreduktion von 20 Prozent und eine nochmalige Reduktion um 20 Prozent nicht 40 Prozent Rabatt ergeben.
Dass bei neuen Lerninhalten zuerst der Aufbau von Verständnis im Zentrum steht und Rechenfertigkeiten erst anschliessend geschult werden, gilt heute als Grundsatz des guten Mathematikunterrichts. Dieser ist weniger ergebnisorientiert, sondern stellt intelligente Lösungswege und ein Verständnis der Zusammenhänge zwischen Zahlen ins Zentrum. Fertige Rechenstrategien – etwa dass bei 7 + 5 stets auf 10 aufgefüllt wird und dann die 2 hinzukommt – gibt es in einem verständnisorientierten Unterricht nicht. Stattdessen sollen die Kinder eigene Rechenstrategien finden: So rechnet ein Kind 25 + 48 beispielsweise «20 + 48 + 5», ein anderes «25 + 50 – 2» und ein drittes «20 + 40 + 5 + 8». Auch memorisieren Kinder keine Zahlreihen mehr für die Multiplikation und Division, sondern erarbeiten sich das Einmaleins durch individuelle numerische Netzwerke. Das heisst, sie lernen nur einzelne zentrale Multiplikationen wie «2 · 7» oder «5 · 7» auswendig und arbeiten mit diesen rechnend weiter, um unbekannte Rechnungen wie «7 · 7» zu lösen.
Doch weshalb so kompliziert, wenn das Rechnen nach alter Schule doch viel einfacher und schneller ist? «Für viele Kinder bleibt das Rechnen nach Regeln leider ein Manipulieren von unverständlichen Zahlen», erklärt Andreas Schulz, Dozent für Mathematik auf Primarstufe an der PH Zürich. «Wenn Kinder jedoch Rechenverfahren und -regeln anwenden, die sie nicht wirklich verstehen, verlieren sie irgendwann den Überblick.» Wenn ein Kind beispielsweise den Zusammenhang zwischen «7 · 7», «5 · 7» und «2 · 7» nicht verstanden hat, sondern lediglich «7 · 7» auswendig kann, wird es mit grösseren Zahlen wie «12 · 7» oder «24 · 7» Mühe haben. «Das Fach Mathematik baut sehr stark auf bereits Gelerntem auf. Aktuelle Verständnislücken erschweren daher das nachfolgende Lernen», so Andreas Schulz.
Das sogenannte flexible Rechnen, bei dem Kinder eigene Strategien entwickeln, soll verhindern, dass Kinder Rechnungen bearbeiten, ohne die Zusammenhänge wirklich zu verstehen, und bereitet so auf das Rechnen mit grösseren Zahlen vor. «Vor dem Rechnen sollen Kinder ein grundlegendes Verständnis des jeweiligen Rechenvorgangs entwickeln», erklärt Schulz. «Wie viel Mal passt 30 in 270 hinein?» nennt er als mögliche Grundvorstellung der Division von 270 durch 30 und «Wie verteile ich 270 auf 30?» als alltagsnähere Vorstellung. Um solche Vorstellungen zu entwickeln, wird heute viel mit Anschauungsmaterial gearbeitet. In diesem Beispiel erhalten die Kinder ein Blatt Papier, auf dem drei Rechtecke mit jeweils 100 Punkten abgebildet sind. Die Kinder zeichnen darauf anschliessend mit Trennstrichen ihre eigenen Rechenwege auf (siehe Box rechts). Durch die visuelle Darstellung des Rechenvorgangs entwickeln die Kinder eine Vorstellung für Grössenverhältnisse und merken, dass ein Resultat wie 90 von der Grössenordnung her nicht stimmen kann. Notiert werden schliesslich nicht nur Lösungen, sondern der gesamte Rechenweg. Dabei ist das Ziel, verschiedene, möglichst elegante und effiziente Rechenwege zu finden, die anschliessend im Plenum vorgestellt, erklärt und diskutiert werden.

«Ich achte im Mathematikunterricht stark darauf, dass die Schülerinnen und Schüler für die Entwicklung ihrer eigenen Lösungswege genug Zeit erhalten. Dabei weise ich sie stets explizit darauf hin, dass Fehler erlaubt sind.» Sandro Muratori, Student auf der Primarstufe
Mehr als Rechnen
Wenn alle Kinder für die gleiche Aufgabe eine Rechenstrategie auf ihrem Niveau entwickeln können, stärkt dies die Motivation und führt weniger zu frustrierenden Mathematikerfahrungen. Zudem lernen die Schülerinnen und Schüler durch die Präsentation eigener Lösungswege in der Klasse, mathematisch zu argumentieren und logische Zusammenhänge mit Formulierungen wie «wenn …, dann …» auszudrücken. In einem sprachsensiblen Unterricht wird das dafür nötige Begriffsrepertoire, das nicht nur für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache keine Selbstverständlichkeit ist, systematisch erarbeitet. Vermehrt wird auch mit sogenannten Rechengeschichten gearbeitet. Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler zu einer Rechnung eine Geschichte erfinden – etwa dass 270 Franken auf 30 Personen verteilt werden. Dadurch wird einerseits das Verständnis gefördert, andererseits sieht die Lehrperson, ob ein Kind wirklich verstanden hat, worum es geht. Generell hat die Bedeutung der Sprache und von Fragen nach dem «wie» oder «weshalb» im Mathematikunterricht zugenommen. Im Lehrplan 21 sind folglich drei von sechs Handlungsaspekten sprachlicher Natur: So lauten die Handlungsaspekte des kompetenzorientierten Unterrichts «Operieren und Benennen», «Erforschen und Argumentieren» sowie «Mathematisieren und Darstellen».
Mathematik führt heute also weit über Rechnen und geometrisches Konstruieren hinaus. «Mathematik ist ein gutes Beschäftigungsfeld, um Zusammenhänge zu erforschen und ein strukturiertes Vorgehen für konkrete Problemsituationen zu entwickeln», sagt René Schelldorfer, Dozent für Mathematik auf der Sekundarstufe I. «Viele Situationen in Beruf und Alltag erfordern zuerst Überlegungen, auf welchem Weg sie gelöst werden sollen. Es geht jeweils darum, Probleme überhaupt erst zu analysieren und darauf basierend Entscheidungen zu treffen und eigene Strategien zu finden», so Schelldorfer. Daher werden heute im Mathematikunterricht vermehrt sogenannte Problemlöseaufgaben gestellt, die zum Tüfteln einladen. Schelldorfer legt als Beispiel drei Gleichungen vor, in denen es ein mathematisches Muster zu entdecken gilt. Dieses können die Schülerinnen und Schüler durch geschicktes Pröbeln mit weiteren Zahlenbeispielen finden, indem sie eine systematische Untersuchung mit Tabellenkalkulation am Computer durchführen oder indem sie die Gleichungen in die Sprache der Algebra übersetzen (siehe Box Seite 14). Diese Art, sich mit Mathematik zu beschäftigen, ist herausfordernder als das routinisierte Auflösen von Gleichungen, aber auch motivierender. Schliesslich knobeln viele Leute gerne, wie das grosse Interesse an Sudokus zeigt.
Ein anregender Mathematikunterricht soll zwei Seiten von Mathematik zeigen. Den Reichtum innermathematischer Beziehungen sowie den Lebensweltbezug. «Besonders in den tieferen Niveaus sind viele Jugendliche froh, wenn man ihnen zeigt, wofür sie Mathematik brauchen können», sagt Schelldorfer. Gefragt sind etwa authentische Konstruktionsbeispiele aus einer Schreinerei oder realistische Rabattrechnungen aus dem Alltag. Textaufgaben, bei welchen die geschilderte Situation nur Einkleidung ist, motivieren die Jugendlichen meist weniger. So fänden Kinder und Jugendliche sogenannt innermathematische Aufgaben ohne Lebensweltbezug oft interessanter, sagt Schelldorfer.
Weg von der eigenen Schulerfahrung
Nachdem sich im Kanton Zürich auf Primar- und Sekundarstufe über 20 Jahre dasselbe Mathematiklehrmittel hielt, wurde an der PH Zürich aufgrund der grossen Veränderungen in der Fachdidaktik ein neues, zusammenhängendes Lehrmittel für sämtliche Stufen vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe I entwickelt. Diese beinhalten handlungsorientierte Einführungen zu jedem Thema sowie Aufgaben, die eine Binnendifferenzierung ermöglichen. «Gute Aufgaben sind wesentlich für einen guten Unterricht. Doch die Lehrperson muss das Potenzial einer Aufgabe erkennen und wissen, wie sie dieses nutzen kann», sagt René Schelldorfer. Stellt die Lehrerin oder der Lehrer an der Wandtafel die möglichen Lösungswege für die oben genannte Division «270 : 30» nur vor, fördert dies keine aktive Auseinandersetzung mit der Aufgabe.
«Eine gute Lehrperson kann sich auf die ‹Verstehensprozesse› der einzelnen Kinder einlassen», sagt Schelldorfer. Dafür ist in der Ausbildung ein Perspektivenwechsel weg von der eigenen, meist resultatorientierten Schulerfahrung nötig. Studierende lösen an der PH Zürich daher erst selbst anregende Mathematikaufgaben und erfahren so, dass diese Suche nach eigenen Lösungswegen Spass macht. Dadurch werden auch Berührungsängste zum Fach abgebaut. Auf der Kindergarten- und Primarstufe, wo Mathematik im Gegensatz zur Sekundarstufe nicht frei gewählt wird, sind solche Hemmungen verbreitet. Die Vorstellung, dass Lehrpersonen, die selbst schlechte Erfahrungen mit Mathematik gemacht haben, sich besser in schwächere Schülerinnen und Schüler versetzen könnten, weist Schelldorfer zurück. Entscheidend dafür sei vielmehr eine gute Ausbildung: «Je umfassender das mathematische Fachwissen, desto besser können Lehrpersonen das Denken ihrer Schülerinnen und Schüler nachvollziehen.»
Ein neuer Mathematikunterricht wird sich allerdings nicht automatisch im Schulfeld verbreiten. Auch wenn Schülerinnen und Schüler diesen als sinnstiftend und interessant erleben, ist es für Lehrpersonen wie bei vielen anderen schulischen Themen anspruchsvoller, auf den Entwicklungsstand der einzelnen Kinder einzugehen und Bedingungen für ein soziales Lernen zu schaffen, als die Klasse an einem Wochenplan arbeiten zu lassen. Damit Lehrpersonen beim Berufseinstieg nicht auf altbekannte Konzepte zurückgreifen, ist eine gute Unterstützung durch das Lehrpersonenteam und die Schulleitung enorm wichtig. Diese wiederum müssen neue Unterrichtskonzepte kennen und unterstützen. Das grosse Interesse an Weiterbildungen zu einem neuen Mathematikunterricht ist ein gutes Zeichen dafür, dass ein Wandel stattfindet.
Erleben, erfahren und eigene Lösungswege finden sind tolle Ansätze und geben viel Eigenmotivation frei. Üben, können und wollen in den Grundfertigkeiten darf nicht vergessen werden. Die besten Lösungswege sind mühsam zu erklimmen, wenn das kleine 1×1 fehlt oder eine Division zum unüberwindbaren Hindernis wird.
Erleben, erfahren und üben, damit wir kreative und zeitlich sinnvoll arbeitende Menschen ins Berufsleben entlassen können. Das ist mein Leitfaden nach 20 Jahren Berufserfahrung auf der Primarstufe in verschiedensten Kantonen mit unzähligen Lehrmitteln und Lernmethoden.