Der Simplicissimus des Orients

Der kurdische Autor Bachtyar Ali war in seiner Heimat längst ein Star, als 2016 mit Der letzte Granatapfel erstmals einer seiner zahlreichen Romane auf Deutsch erschien. Die Stadt der weissen Musiker bestätigt den überwältigenden ersten Leseeindruck. Und der westliche Literaturbetrieb reibt sich wieder die Augen und fragt sich, wie ein Autor dieses Formats so lange unentdeckt bleiben konnte.

Jede Inhaltsangabe dieses vierhundertseitigen Romans greift zu kurz. Jede erzähltheoretische Einordnung kann nur ein Versuch sein. Bachtyar Ali ist eine Ausnahmeerscheinung. Er erzählt die jüngere Geschichte des irakischen Kurdistans während der unzähligen Kriege in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts und schafft mit den Mitteln des magischen Realismus ein postmodernes orientalisches Märchen. Es ist die Geschichte Dschaladati Kotrs, der als Achtjähriger von einem Toten eine Flöte bekam und mit seinem Spiel sogleich alle verzauberte. Im Krieg überlebt er als einziger ein Massaker, wird von einem berüchtigten Kriegsverbrecher gerettet und versteckt sich schliesslich in einem Wüstenbordell. Um nicht aufzufallen, muss er die Kunst der Musik verlernen.

«Hier muss sich früher oder später jeder echte Musiker, wenn man ihn nicht umbringt, selber umbringen. (…) Damit begann für mich eine gefährliche Zeit, die Zeit des Musikverlernens. Um zu überleben, musste ich alles verlernen, was ich gelernt hatte.»

Beschützt von der Prostituierten Dalia und einem Arzt, der in einem unterirdischen Museum die Kunst vor der Zerstörung zu retten versucht, bereitet Dschaldati Kotr den Prozess seines Retters, der mittlerweile zum Freund geworden ist, vor. Er zieht durch das Land, sucht die überlebenden Opfer auf und überzeugt sie, in einem Gericht abseits der korrumpierten offiziellen Justiz als Opfer, Zeugen und Richter zusammenzukommen.

«Wir haben eine sehr blutige und grausame Geschichte», sagt Bachtyar Ali, «so hatte Heimat für mich immer mit Unsicherheit, Angst und Unvertrautheit zu tun. Deswegen versuchen fast alle meine Figuren, einen anderen Ort zu finden, eine utopische, unreale Welt. Es gibt immer diesen Konflikt zwischen Wahrheit und Schönheit, sollen wir die Wahrheit erzählen oder Schönheit produzieren?»

Diese poetologische Kernfrage verhandelt auch die Rahmenhandlung des Romans. Der Autor Ali Scharafiar wird damit beauftragt, die Lebensgeschichte Dschaladati Kotrs zu schreiben. Diese wird abwechselnd vom Flötisten selbst und vom Autor erzählt. Ihr Streit über die angemessene Form für diese Geschichte verweist auf aktuelle künstlerische Diskussionen zur Repräsentation von Wirklichkeit. Der Protagonist strebt nach Wahrheit und Nüchternheit, der Autor nach Bedeutung und Schönheit. Letztere Position fasst Bachtyar Ali unter dem Begriff «Der schöpferische Schrecken» zusammen: «Wenn man flieht, dann geschieht das ja immer aus Notwendigkeit. Die Angst und den Schrecken, die uns aus der Heimat vertreiben, tragen wir überallhin mit. Aber dann stellt sich die Frage, ob man immer in diesem Zustand leben soll. Meiner Meinung nach kann man diese Traumata künstlerisch und kreativ behandeln, sie in Gedanken, Bilder oder Texte umsetzen. Immigranten könnten damit auch eine andere Art von Weltsicht vermitteln. Wir Immigranten sind wie ein neues Volk auf dieser Erde, wir haben keine Heimat, keine bestimmte Identität; wir könnten alle diese Begriffe neu definieren und die Erde vielleicht in einen natürlicheren Zustand zurückversetzen, indem wir die bestehenden politischen Grenzziehungen ignorieren.»

Ja, Die Stadt der weissen Musiker ist ein Roman, der mit seinen ausufernden Geschichten die historische Realität transformiert und ihr eine neue Gestalt gibt. Als Leser tauche ich in eine wundersame Welt mit tausend Binnengeschichten ein, eine Welt voller Gewalt, erzählt wie ein fantastisches Märchen und schrecke auf, wenn ich mit konkreten geografischen und historischen Bezügen konfrontiert werde. So weit hat mich die Geschichte von der Realität entfernt und so stark bin ich ohne es zu wissen in diese Realität eingetaucht. Es sind Gewaltschilderungen ohne Sentimentalität und kathartische Erlösung. Denn dieser Roman spielt in einer Welt, in der Grenzen tatsächlich ignoriert werden und sich auflösen. Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Tod und Leben. So ist auch die titelgebende «Stadt der weissen Musiker» ein Ort der nichtgeschriebenen Geschichten, der unkomponierten Melodien, wo die Untoten in immer neuen Varianten ihr Schicksal schreiben und die Blätter dem Wüstenwind überlassen.

Bachtyar Ali lebt seit über zwanzig Jahren in Deutschland. Sein Werk umfasst über zwanzig Publikationen: Essaybände, Lyrik und elf Romane. Die deutschen Übersetzungen weiterer Romane sind in Vorbereitung.

Bachtyar Ali
Die Stadt der weissen Musiker.
Aus dem Kurdischen (Sorani) von Peschawa Fatah und Hans-Ulrich Müller-Schwefe.
Zürich: Unionsverlag, 2017. 426 Seiten.