Mit Spielen lernen und führen

Ausgestattet mit Hunderten von Holzklötzen beschreitet die PHZH-Dozentin Catherine Lieger in Sri Lanka im Rahmen des Projekts «Spielen Plus» neue Wege in der Klassenführung. Ihre Erfahrungen wird sie auch zur Integration von Kindern mit Migrationshintergrund in der Schweiz nutzen.

Es ist die erste Stunde an diesem Tag im Kindergarten «Rahula» in Aluthgama, 20 km von Colombo entfernt. In der 2. Klasse werden gerade einfache Holzbauklötze verteilt. Der 5-jährige Usith zögert kurz, setzt den letzten Bauklotz auf die Spitze seines Turms, fischt ein Zebra aus einem Haufen von Plastiktieren, konzentriert sich und setzt das Tier dann auf die Spitze. Catherine Lieger sitzt gemeinsam mit den Kindern an einem der fünf bunten Rundtische. Sie forscht im Rahmen eines Projekts der Abteilung Internationale Bildungsentwicklung (IPE) der PH Zürich darüber, wie der Einsatz von spielerischen Elementen den Lernprozess begünstigen. Zielgruppe sind Kinder von vier bis acht Jahren.

Mit wachsamen Augen beobachtet die Forscherin die Spielszene. Vom anderen Ende des Klassenzimmers tönt unterdessen Tanzmusik. Catherine Lieger erklärt mit Blick auf die eben erlebte Szene: «Dies ist eine interessante Entwicklung punkto Spielgestaltung.» Bisher seien hier spielerische Elemente kaum im Unterricht eingesetzt worden. Dies mag nicht verwundern, gab es doch kaum Spielmaterial. Gespielt wurde in den vier Kindergärten nur draussen in den Pausen. Also griff Catherine Lieger zu einer unorthodoxen Lösung. Aus der Schweiz brachte sie Holzklötze mit. Holz war bis zu diesem Zeitpunkt in Sri Lanka als Spielmaterial gänzlich unbekannt und galt als Abfall.

Die Kinder konnten aufgrund ihrer fehlenden Erfahrung zuerst wenig damit anfangen. Inzwischen bauen die Schülerinnen und Schüler dreidimensional in die Höhe. Statt das Spielmaterial nur zu benützen, wählen sie die Spielsachen bewusst aus und mischen die Materialien. «Die Kinder lassen dem Spiel jetzt freien Lauf und entdecken ihre Kreativität.» Was nun spielerisch aussieht, ist das Ergebnis intensiver Arbeit. Einen Monat lang zeigte Lieger den Lehrerinnen und Lehrern neue Möglichkeiten in der Spielbegleitung und in der Klassenführung: beobachten, vorsichtige Intervention und Impulse setzen.

Abbau von Vorurteilen gegenüber dem Spielen

Jahrelang hat Catherine Lieger zu der Frage geforscht, wie sich Kinder erfolgreich entwickeln können. Ihre Erkenntnis lautet vor allem: weg vom erwachsenengesteuerten Wissen. Kinder, die spielen, lernen leichter und sind konzentrierter. Zusätzlich entwickeln sie Eigeninitiative und Verantwortung. Bis vor kurzem lag der Schwerpunkt ihrer Studien im Umfeld von Kindergärten in der Schweiz und in Deutschland. Seit 2017 arbeitet Lieger an dem Projekt «Spielen Plus» in Sri Lanka. Geplant ist, dereinst ein Lehrmittel für Lehrpersonen und zur Elternbildung zum pädagogischen Nutzen vom Spielen zu entwickeln. Eine weitere Einsatzmöglichkeit des Materials bietet sich im spezifischen Unterricht von Kindern mit Migrationshintergrund. Nicht nur bei den 65 000 Migrantinnen und Migranten aus Sri Lanka, sondern auch bei Kindern, die aus anderen Ländern stammen.

Die Kooperation mit den Partnern in Sri Lanka begann bereits im Jahr 2014. Während einer ihrer Studienreisen dorthin lernte Catherine Lieger die Schulleiterin Jimutti Fernandez kennen. «Ich habe mich dafür interessiert, wie der Unterricht in den Kindergärten in Sri Lanka funktioniert.» Anfangs war es nicht leicht, die Schulleiterin vom Konzept «Spielen Plus» zu überzeugen – und davon, dass Spielen nicht im Widerspruch zum Lernen steht. In Sri Lanka, wie vielerorts in Asien, bestehen dem Spielen gegenüber häufig Vorurteile. Die kritische Einstellung ist die Folge eines harten Überlebens- und Konkurrenzkampfs in der Gesellschaft.

Als das Bildungsministerium in Sri Lanka die Einwilligung zur Umsetzung des Projekts im Kindergarten in Aluthgama gab, ging es sofort los. In einem ersten Schritt brachte Catherine Lieger die Idee ein, die Klassenraumgestaltung mit dem Pult an der Spitze und die Holzschulbänke dahinter in Reih und Glied aufzubrechen und stattdessen farbige Rundtische einzusetzen. «Die lose und weniger geradlinige Anordnung des Schulmobiliars ermöglicht insbesondere auf der Kindergartenstufe mehr Flexibilität in der Klassenführung», erklärt Catherine Lieger. Das Spielzeug sollte dabei allen Kindern einfach zugänglich sein. «Dies ist meiner Erfahrung nach eine wichtige Grundvoraussetzung für die Integration von spielerischen Elementen in den Unterricht.» Anfangs fehlte es dabei den Kindern an Ideen, wie sie mit Sand, Steinen, Wasser und Holz spielen können. Auch umklammerten sie das Spielmaterial und horteten es, sobald sie es in den Händen hatten. «Die Angst, dass man zu kurz kommen könnte, dass man nichts Eigenes besitzt oder bekommt, ist tief verankert», erklärt die Dozentin. Sie löste die Verkrampfung, indem sie die Spielsachen wieder einsammelte und neu verteilte. Durch Vor- und Mitspielen zeigte sie den Kindern in der Interaktion Spielvarianten mit dem vorhandenen Material auf. «Ich möchte den Lehrpersonen nicht das Gefühl vermitteln, dass ich alles besser weiss. Es geht mir lediglich darum, die in meinen Untersuchungen erhaltenen Erkenntnisse zum Einsatz von Spielen beim Lernen und zur Klassenführung weiterzureichen.»

Erster Schritt ist erfolgreich verlaufen

Am Abend nach dem Unterricht im Kindergarten macht sich Catherine Lieger Gedanken über die Nachhaltigkeit des Projekts. Um langfristig etwas zu verändern, brauche es eine intensive Kooperation mit den einheimischen Lehrkräften. «Ich sehe mich dabei in der Rolle eines Coaches. Die wesentliche Umsetzungsarbeit muss die jeweilige Lehrperson jedoch selber leisten.» Eine Herausforderung bleibt die Überwindung der Vorstellung, Spielen sei nutzlos, ohne Wert für die Bildung. «Das ist die grosse Aufgabe, die Eltern und Lehrpersonen davon zu überzeugen, dass man durch Spielen lernen kann.» Im Kindergarten «Rahula» ist der erste Schritt in diese Richtung erfolgreich verlaufen. Schulleiterin Jimutti Fernandez bewertet die gemachten Erfahrungen als sehr positiv. Neben den Lehrpersonen seien auch die Eltern der Kinder zufrieden. Inzwischen hat Catherine Lieger die Erkenntnisse zum Spiel im Kindergarten und die erhaltenen Ideen zur Klassenführung an einer Regionaltagung weiteren Lehrpersonen vorgestellt.

Langsam weitet sich der Kreis der Anhänger sogar über das Schulfeld hinaus. In ihrem Übersetzer Saman Da Silva hat Catherine Lieger einen weiteren Unterstützer gefunden. Er klappert in Aluthgama die Abfallhalden der Schreiner ab, um weggeworfene Holzstücke vor den Flammen zu retten. Sie alle lassen sich hervorragend als Bauklötze für weitere Kindergärten verwenden.