Mario Bernet: Jüngst erlebte ich auf einem Praktikumsbesuch in der Stadt Zürich Folgendes: Der Student gab der Klasse einen Auftrag und ermutigte die Kinder mit den Worten «Und habt keine Angst vor Fehlern. Aus Fehlern lernt ihr nämlich.» Darauf meldete sich ein Schüler: «Zuhause schimpft mein Vater mit mir, wenn ich Fehler mache.» Der Student beruhigte: «Du hast Glück – wir sind hier in der Schule.» Worauf der Bub insistierte: «Aber ein Fehler ist schlimm. Dann hat man mehr Hausaufgaben.» Ein wacher Junge, finde ich. Bist du für oder gegen Fehler?Ruedi Isler: Da kommt mir eine Geschichte in den Sinn. Mit 15 war ich keine Kanone in Französisch, aber dann habe ich einmal für einen Kurztest alles gegeben und es geschafft, nur zwei Fehler zu machen. Leider hatte ich in den Verbesserungen der vorausgehenden Prüfung drei Fehler. Die wurden dazu gezählt. Da pro Fehler eine halbe Note abgezogen wurde, reichte es wieder nicht für eine 4. Daraus habe ich meine Konsequenzen gezogen.
Bernet: Nämlich?
Isler: Französisch interessiert mich nicht – und wer Fehler macht, der wird bestraft.
Bernet: Somit tratst du dank dieser schulischen Gemeinheit «ausgerüstet mit soliden Kenntnissen über die Natur des Menschen ins Leben ein», um es mit Bertolt Brecht zu formulieren. Aber wenn ich richtig rechne: Das war in den 1960er Jahren. Seither hat sich einiges getan, auch in der Schule. Es kam auch eine neue Fehlerkultur zur Sprache. Blosse Rhetorik oder Paradigmenwechsel?
Isler: Dichter und Denker loben den Fehler, und die pädagogische Rhetorik lässt keinen Zweifel daran, dass Fehler machen zum Lernen gehört. In den Schulzimmern ist aber eine negative, für die Kinder unangenehme Fixierung auf das Fehlerhafte noch weit verbreitet. Kompetenzorientierung und Leistungstests, die schon in unteren Klassen immer häufiger werden, fördern die von dir gewünschte Fehlerkultur aber auf keinen Fall.
Bernet: Kehren wir zur Szene im Praktikum zurück. Wenn ich dich richtig verstehe, haben hier beide recht: der Student, der zum unbefangenen Ausprobieren einlädt – und der Erstklässler, der ahnt, dass Fehler zu seinen Ungunsten ausgelegt werden könnten. Was würdest du den beiden raten?
Isler: Was – im Gegensatz zu meinen Schulerfahrungen – ein produktiver Umgang mit Fehlern wäre, ist klar. Lehrpersonen müssen mit Fehlversuchen der Lernenden wohlwollend umgehen und individuell darauf eingehen, was ein hohes Engagement erfordert. Gleichzeitig sollte man den Kindern, die übrigens überhaupt nicht gerne Fehler machen, versichern, dass man ihnen aufhilft, keine Fehler mehr zu machen – und perfekt zu werden. Am Ende ist das das Ziel.
Bernet: Immerhin habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Kinder sich dann auf Fehler einlassen, wenn sie als «Fehlerdetektive» Irrwege entdecken und entwirren können. Das ist vielleicht sogar mehr als ein didaktischer Trick.
Isler: Ja, aber irgendwie hat der Bub deines Praktikanten recht. Er fängt eine gesellschaftliche Realität ein, die beim Lernen zwar problematisch sein kann und von uns Pädagogen gebrochen werden muss. Für unsere Zivilisation ist sie aber ein Segen: Wir alle lieben präzise Uhren, pünktliche Züge und eine perfekt funktionierende Post! Fehler sind da wirklich nicht willkommen.