«In Krisen- und Kriegssituationen gehören Schulen zu den ersten Institutionen, die verloren gehen. Dieser Verlust verursacht auf lange Zeit für die Grundschulkinder und die Studierenden den grössten Schaden», sagt der kurdische Künstler und Gründer der Silent University, Ahmet Öğüt. Die Ausbildung fällt während mehreren Jahren aus, oft kann erst Jahre später in einem anderen Land in einer anderen Sprache und auf tiefem Niveau wieder eingestiegen werden. Mittlerweile gibt es in Europa an einigen Universitäten und Hochschulen spezielle Einstiegsprogramme für geflüchtete Studierende. Aber für Dozierende ist es fast aussichtslos, in ihrem Fachgebiet in der Lehre tätig zu sein – aufgrund ihres Aufenthaltsstatus, der fehlenden Anerkennung ihrer Abschlüsse oder aus sprachlichen Gründen. Sie werden zum Schweigen gebracht.
Dieser Tatsache versucht Ahmet Öğüts Silent University entgegenzuwirken. 2012 startete er in London dieses Projekt, das sich an der Schnittstelle zwischen Kunst, Pädagogik und Aktivismus bewegt. Eine autonome Plattform von und für Asylsuchende und Migranten, die die Möglichkeit bietet, auch im Exil im eigenen Fachgebiet in der Lehre tätig zu sein. In der Muttersprache, als Dozierende und Beraterinnen und Berater. Gemeinsam werden Vorträge, Diskussionen, Publikationen und Archive geplant und realisiert.
Die Silent University gründet auf Autorisierung und Anerkennung von Wissen. Sie kann in einer Tradition gesehen werden, die der brasilianische Reformpädagoge Paolo Freire und der österreichische Philosoph Ivan Illich in den 1970ern mitprägten. Später kamen Debatten rund um gesellschaftliche Teilhabe und die Ausführungen der indischen Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak im Kontext des postkolonialen Diskurses ergänzend dazu: Wie, von wem und für wen wird Wissen produziert, wie ist das Verhältnis zwischen Zugang zu Wissen und Macht. Und welche Inhalte werden nach welchen Kriterien vermittelt?
Nach der ersten Silent University in London wurden Ableger in Stockholm, Hamburg, Mülheim/Ruhr und Graz in Zusammenarbeit mit bestehenden Institutionen (Museen, Theaterfestivals und Bildungsinstitutionen) gegründet, zugeschnitten auf die jeweiligen örtlichen Bedürfnisse. Als autonome Plattform sollte das Projekt bottom up funktionieren, dennoch brauchte es Institutionen als Partner. Diesen Widerspruch gilt es auszuhalten, die Initiatoren bewegen sich ständig im Spannungsfeld zwischen Schaffung von neuen Strukturen, ausserhalb von staatlichen Institutionen, und Reformen von innen. Später, in Athen und Amman, wurde dann der Versuch gewagt, nur mit einer Gruppe engagierter und motivierter Menschen zu arbeiten, ohne Institutionen und ohne Budget.
The Silent University ist ein äusserst lesenswertes Handbuch, das Theorie mit fundiertem Praxisbezug verknüpft. Es stellt das ambitionierte Projekt in den Kontext von Migrationspolitik, kritischer Pädagogik, künstlerischer Einmischung und institutionellem Engagement. Und es zeigt transparent und praktisch erfahrbar die Konflikte und Erfolge der Realisierungen in den verschiedenen Städten. Denn das Buch versteht sich als «eine Einführung für jene, die sich an der Silent University beteiligen wollen.» Vielleicht auch bald in der Schweiz?