Wie die Jugendlichen Politik heute (nicht) erleben

Vor einem Vierteljahrhundert in den meisten Schweizer Schulhäusern: Generalstabsmässig wurde unter den Lehrpersonen abgesprochen, welche Klassen die Bundesratswahlen wann und wie lange am Fernsehen verfolgen durften – sofern man überhaupt das Glück hatte, im Schulhaus über einen TV-Anschluss zu verfügen.Sonst sassen alle Klassen gebannt um das Radio. Zur Vorbereitung war jeweils Staatskundeunterricht angesagt: Wer wählt den Bundesrat? Nach welchem Wahlverfahren? Was macht der Bundesrat überhaupt? Als Hausaufgabe waren möglicherweise die Namen der Bundesräte mit ihren Departementen aufzuschreiben.
Wie ist das heute? Die Bundesratswahl vom 20. September 2017 wurde in den Zürcher Schulen, so weit ich das überblicken kann, kaum thematisiert. Dass Abstimmungen wie über die Altersvorsorge 2020 auf kein Interesse bei den Jugendlichen stos-sen, ist aufgrund des Themas nachvollziehbar; bei der Masseneinwanderungsinitiative ist das Desinteresse jedoch schon weniger gut erklärbar.
Die Gründe dafür dürften vielfältig sein. Einer davon: Die Lehrpersonen gehen meiner Erfahrung nach heute politischen Diskussionen in der Schule eher aus dem Weg – sei es aus Mutlosigkeit, aus vorauseilender Vorsicht oder aus Desinteresse. Für die Jugendlichen wiederum ist ihr näheres Umfeld wichtig: Familie, Kolleginnen und Kollegen, Schule und Beruf.
Möglicherweise ist es gerade die permanente Verfügbarkeit von Informationen aus der ganzen Welt, die den Rückzug in die private Umgebung bewirkt. Zudem hat sich das Freizeitverhalten geändert: Nach wie vor stehen Sportvereine hoch im Kurs, allen vorab Fussball und andere Ballsportarten. Häufiger als auch schon wird musiziert und getanzt. Aber auf der Sekundarstufe fand man lange nur wenige, die sich zum Beispiel bei den Pfadfindern engagierten – waren auch dort die Vorbereitungen zu komplex? Immerhin: Seit einigen Jahren gibt es nun wieder mehr Mitglieder.
Es gibt kein allgemeingültiges Rezept, Jugendliche für die Politik zu interessieren. Auch ein einmaliger Besuch im Bundeshaus in Bern schafft die Wende wohl nicht. Am vielversprechendsten dürfte sein, die Jugendlichen bei ihren ureigensten Interessen abzuholen – bei einem Ziel, das sie nur über die Politik erreichen können. Dies braucht nicht gerade ein neues Autonomes Jugendzentrum zu sein, aber etwas, das man nur gemeinsam und mit öffentlichem Engagement schaffen kann – und plötzlich kann die Politik wieder wichtig werden.

Lilo Lätzsch, 65, steht seit 43 Jahren im Schuldienst. 17 Jahre war sie auch in der Geschäftsleitung des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands, die letzten zehn Jahre präsidierte sie ihn. Ende Juli hat Lilo Lätzsch ihr Amt abgegeben. Sie arbeitet weiterhin als Sekundarlehrerin in Zürich.