In Zeiten von sozialen Medien, mobilem Internet und Gratiszeitungen sind Kinder und Jugendliche von Politik umgeben wie noch nie. Politische Bildung wird darum immer wichtiger, gerade wenn sich «postfaktische» Debatten und «Fake News» ausbreiten. Doch «politische Bildung», was ist das überhaupt und wie wird sie gelehrt?
Es ist ein Begriff, der offenbar den Zeitgeist trifft: Postfaktisch. Sowohl die «Gesellschaft für deutsche Sprache» als auch ihr englisches Pendant, die Oxford Dictionaries, wählten «postfaktisch» («post-truth» auf Englisch) zum Wort des vergangenen Jahres. In politischen und gesellschaftlichen Diskussionen, begründeten sie ihre Wahl fast wortgleich, gehe es heute zunehmend um das Schüren von Emotionen, um «gefühlte Wahrheiten» und nicht mehr um objektive Tatsachen.
Diese gesellschaftliche Entwicklung macht deutlich, wie wichtig politische Bildung ist. Bis weit in die 1990er-Jahre wurde sie in der Schweiz weitgehend als Staatskundeunterricht verstanden und umfasste vor allem staatliches und institutionelles Handeln. «Heute lautet ein zentrales Ziel politischer Bildung Demokratiekompetenz», sagt Rolf Gollob, Mitglied des Fachbereichs Geschichte und Politische Bildung und Co-Leiter des Zentrums für Internationale Bildungsprojekte (IPE) an der PH Zürich: «Eine rein formale Wissensvermittlung über die Organisation und Funktionsweise von politischen Institutionen reicht nicht aus, um Schülerinnen und Schüler für die Teilnahme am öffentlichen Leben zu befähigen», sagt Gollob.
Von Vaterlandskunde zum eigenen Urteil
Die Inhalte des klassischen Staatskundeunterrichts (der in der Schweiz so unterschiedliche Namen wie «Vaterlandskunde» oder «Verfassungskunde» trug) sind nach wie vor wichtig; das Wissen über die Geschichte und wichtige Merkmale des schweizerischen politischen Systems zum Beispiel. Doch werden heute die nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten für eine politische Teilnahme stärker gewichtet und im Unterricht konsequenter eingebettet als früher. Neben der Kenntnis über demokratische Grundkonzepte wie etwa Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung oder Menschenrechte gehören verschiedene Analyse-, Methode- und Handlungskompetenzen dazu.
Damit sich jemand tatsächlich in politische Prozesse einbringe, sagt Gollob, müsse er auch kompetent für öffentliche Diskurse und Problemlösungsfindungsprozesse sein. So sollen die Schülerinnen und Schüler fähig sein, sich Informationen zu beschaffen, diese richtig einzuordnen und sich ein Urteil zu bilden. Sie sollen in politischen Auseinandersetzungen verschiedene Wertvorstellungen und Interessen erkennen können und in der Lage sein, eine eigene Meinung zu vertreten und dabei gleichzeitig abweichende Meinungen zu respektieren.
Während weiterhin die Prämisse gilt, dass Demokratinnen und Demokraten nicht vom Himmel fallen, sondern zu solchen ausgebildet werden müssen, hat sich in der politischen Bildung heute ein weiter Politikbegriff etabliert, wonach unter Politik grundsätzlich das Aushandeln und Durchsetzen von allgemeinverbindlichen Regeln in und zwischen Gruppen zu verstehen ist. Ein solcher Politikbegriff berücksichtigt beispielsweise, dass auch Einwohnerinnen und Einwohner ohne Stimm- und Wahlberechtigung zur Meinungsbildung in einer Demokratie beitragen. Der Blick auf Abstimmungen verdeutlicht jedoch, wie viel politische Bildung gerade in einer direkten Demokratie wie der schweizerischen leisten muss. Hier entscheiden Stimmberechtigte über Sachfragen, Investitionen oder Gesetze mit – und sie haben sogar die Macht, die Verfassung fast nach Belieben zu verändern. Rund die Hälfte aller Volksabstimmungen weltweit findet in der Schweiz statt.
«Jugend ohne Politik»
Gross war darum die Aufregung hierzulande, als um die Jahrtausendwende herauskam, dass die 14-jährigen Jugendlichen in der Schweiz im internationalen Vergleich nur über ein unterdurchschnittliches politisches Wissen verfügten und generell ein geringes Interesse an Politik hatten. Dies zeigte die Studie «Civic Education Study» zur staatsbürgerlichen und politischen Bildung. Diese Erhebung, die in der Schweiz unter dem Titel «Jugend ohne Politik» veröffentlicht wurde, war kein statistischer Ausreisser. Eine Nachfolge-Studie («International Civic and Citizenship Education Study») bestätigte 2009 das ernüchternde Resultat. Mehr noch: Sie zeigte, dass jede und jeder vierte Befragte politisch nur ungenügend Bescheid wusste. Sie stellte zudem eine hohe Korrelation von politischem (Nicht-)Wissen mit sozialen Faktoren wie sozio-ökonomischer Stellung des Elternhauses oder Migrationshintergrund fest. Die Ergebnisse dieser beiden Studien lösten in der Schweiz eine bildungspolitische Debatte aus und wiesen auf die Notwendigkeit einer politischen Bildung in der Schule hin, die Kinder und Jugendliche aller Bevölkerungsschichten erreicht.
Ziel Demokratiekompetenz
Weil Demokratiekompetenz auf so grundlegenden Fähigkeiten wie dem Zuhören des Gegenübers beruht, sollte politische Bildung so früh wie möglich beginnen. In einem Kindergarten könnte das zum Beispiel so aussehen: An einem Morgen ist in einer Ecke zwischen einem Mädchen und einem Jungen ein Streit um Bauklötze entbrannt. Worum es genau geht, ist unklar, doch die Lautstärke ist für zwei Kinder in der Nähe Signal genug. Noch bevor die Kindergartenlehrerin einschreitet, stürmen sie zu einem Schrank und holen ein grosses Tuch hervor. Es ist das sogenannte Friedenstuch ihres Kindergartens, das immer dann zum Einsatz kommt, wenn ein Konflikt über eine normale Auseinandersetzung hinausgeht. Als sogenannte Friedensrichter sind die beiden Kinder zurzeit für das Tuch verantwortlich. Mit Hilfe der Lehrerin breiten sie das farbige Tuch aus, auf dem bald alle Kinder der Klasse Platz genommen haben. Im Kreis lauschen sie den Schilderungen der beiden Streitparteien und formulieren anschliessend einige Ideen, was man anders hätte tun können. Es fallen Wörter wie «Streit», «nachgeben» und «gemein». Nach einer Versöhnung wird das Tuch bis zum nächsten groben Alltagskonflikt versorgt.
Das sogenannte Friedenstuch dient verschiedenen Zwecken. Zunächst lernen die Kinder in der Rolle der Friedensrichter, Konflikte als solche überhaupt zu erkennen und einzuschätzen. Durch das Zuhören, Benennen und Schlichten in der Gemeinschaft lernen sie zudem wichtige Elemente einer respektvollen Streitkultur kennen. «Über Wörter wie ‹Streit› oder ‹gemein› lernen die Kinder eine Terminologie für Auseinandersetzungen kennen», erklärt Gollob. «Wenn ich es gewohnt bin, dass verschiedene Sichtweisen auf einen Konflikt existieren, kenne ich zudem das Konzept der Meinungsfreiheit bereits implizit», fügt er hinzu. Das Friedenstuch ist nur eine von zahlreichen Möglichkeiten, wie Kinder im Schulalltag stufengerecht an demokratische Grundkompetenzen herangeführt werden. Erzählen Kinder zum Beispiel nach dem Wochenende vor der Klasse, was sie erlebt haben, so stärken sie dadurch auch ihre Auftrittskompetenz.
Ein solches Einüben von Demokratiekompetenzen folgt der Überlegung, dass Demokratie nicht nur gelernt werden muss, um gelebt werden zu können, sondern auch gelebt werden muss, um gelernt werden zu können. So erarbeitet man heute ein politisches Instrumentarium nicht mehr auf eine spätere Teilhabe hin, sondern Partizipation wird in der Schule bereits aktiv gelebt. Beispielsweise werden Verhaltensregeln für das Klassenzimmer oft mit der Klasse ausgehandelt. Dadurch lernen Kinder nicht nur Sinn und Zweck von Regeln besser zu verstehen, sondern auch in einer Gruppe Entscheidungen zu treffen.
Anlass zur Partizipation gibt es in der Schule genügend: Wird etwa ein Pausenplatz umgebaut, werden die Schülerinnen und Schüler idealerweise in den Planungsprozess miteinbezogen. Zum einen fördert dies die Identifikation mit dem Lernort, zum anderen bietet das öffentliche Bauvorhaben einen guten Anlass, um zentrale Aspekte der Entscheidungsfindung zu thematisieren. So könnten Primarschülerinnen und -schüler etwa in einer Schulhausumfrage die unterschiedlichen Nutzungsbedürfnisse erheben und auf dieser Grundlage Vorschläge für eine Gestaltung entwickeln. Wenn die Mehrheit Fussball spielen will, während sich eine Gruppe Orte für das Versteckspiel wünscht, werden die Schülerinnen und Schüler mit einem klassischen Interessenskonflikt konfrontiert. «Wie gestalte ich den Platz, dass kleinere oder schwächere Gruppen auch zufrieden sind?», lautet eine mögliche Frage für eine anschliessende Diskussion in der Klasse. (Mehr zur Partizipation in den Zürcher Schulen ab Seite 20)
Erste Erwähnung im Lehrplan 21
Gentechnik, Migration oder der Sprachenstreit in der Schweiz – alle diese Themen können in der Schule Ausgangspunkt für politische Bildung sein, welche nach wie vor als überfachlicher Unterrichtsgegenstand und nicht als eigenständiges Fach behandelt wird. Im Lehrplan 21 wird politische Bildung fächerübergreifend für konkrete Fachbereiche aufgeführt:
Für den 1. und 2. Zyklus (Kindergarten und Primarstufe) ist dies der Fachbereich «Natur, Mensch, Gesellschaft». Im Kompetenzbereich «Gemeinschaft und Gesellschaft – Zusammenleben gestalten und sich dafür engagieren» werden verschiedene grundlegende Demokratiekompetenzen beschrieben wie die Fähigkeit, Sanktionen in Zusammenhang mit bekannten Regeln zu bringen oder für Fragen und Anliegen zuständige Personen wie die Lehrperson oder den Schulhauswart zu identifizieren.
Im 3. Zyklus (Sekundarstufe I) findet Politik explizit im Fachbereich «Räume, Zeiten, Gesellschaften» und dort wiederum im Kompetenzbereich «Demokratie und Menschenrechte verstehen und sich engagieren» Erwähnung. Auf dieser Stufe wird von den Schülerinnen und Schülern zum Beispiel verlangt, dass sie Kinder- und Menschenrechte erläutern, zu aktuellen Problemen und Kontroversen Stellung beziehen oder erklären können, wie sich Demokratie von anderen Regierungsformen unterscheidet.
Mit dem Lehrplan 21 wird die politische Bildung nun in allen Deutschschweizer Kantonen, die diesen übernehmen, explizit verankert. Bisher existiert im Kanton Zürich seit 2005 ein Lehrplanzusatz zur politischen Bildung, in dem viele im Schulalltag gelebte Elemente politischer Bildung wie die Informationsbeschaffung oder das Einhalten von Gesprächsregeln zum ersten Mal unter dem Begriff politischer Bildung Erwähnung finden.
Werte explizit thematisieren
«Im Schulalltag findet politische Bildung implizit tagtäglich mit grosser Selbstverständlichkeit statt», sagt Stephan Hediger, Bereichsleiter für Geografie, Geschichte, Religion und Kultur auf der Sekundarstufe I an der PH Zürich. Er verweist auf seit Jahren etablierte und gut funktionierende Institutionen wie den Klassenrat oder Schülerparlamente. Zudem bewiesen Kinder und Jugendliche gerade im Umgang mit sozialen Medien, dass sie zentrale demokratische Fähigkeiten wie das Äussern einer eigenen Meinung intuitiv beherrschen, so Hediger.
Eine fundierte politische Bildung verlange jedoch mehr als ein nur beiläufiges Demokratielernen im Schulalltag: «Es reicht nicht aus, mit grosser Selbstverständlichkeit Werte zu leben, die Teil der Menschenrechte sind», sagt Hediger. Um sicherzustellen, dass tragende Werte wie etwa die Meinungsfreiheit auch in Zukunft eingehalten werden, gelte es diese explizit zu thematisieren und deren historische Bedingtheit aufzuzeigen. Wird in einem Unterrichtsblock das Stimmrecht behandelt, könnte beispielsweise das Frauenstimmrecht in der Schweiz thematisiert werden, um aufzuzeigen, dass ein Mitspracherecht nicht selbstverständlich ist. Grundsätzlich müssten gesellschaftliche Wirklichkeiten mit politischen Kategorien verbunden werden, sagt Hediger. Wer die Elemente komplexer Probleme genau benennen könne, habe ein besseres Verständnis für diese und könne Vorgehensweisen oder Regeln auch auf andere Situationen übertragen.
Als grösste Herausforderungen der politischen Bildung sieht Hediger Sichtbarkeit und Kohärenz: «Es gibt gute Gründe für einen fächerübergreifenden Unterricht, doch birgt dieser das Risiko, dass politische Bildung lediglich implizit geschieht.» Welchen Stellenwert politische Bildung bei den Lehrpersonen hat, gilt es für die Schweiz nach wie vor zu untersuchen. Das relativ geringe Interesse an Weiterbildungskursen zu politischer Bildung an der PH Zürich deutet allerdings darauf hin, dass dieses Thema nicht höchste Priorität hat. Allerdings stehen den Lehrpersonen heute ausgezeichnete Lehrmittel zur politischen Bildung zur Verfügung, insbesondere für die Sekundarstufe I, wo eine explizite und kohärente politische Bildung besonders wichtig wird. (Siehe Box auf Seite 12)
Keine Angst vor Politik
Während angehende Primarschullehrpersonen an der PH Zürich modulübergreifend auf die Herausforderungen der politischen Bildung vorbereitet werden, absolvieren angehende Sekundarlehrpersonen für das Fach Geschichte ein spezielles Modul «Politische Bildung». Dabei wird deutlich, dass Politik in der Schule nach wie vor als heikles Thema betrachtet wird. «Viele Studierende haben zu Beginn Bedenken bezüglich Indoktrinationsvorwürfen oder heiklen Themen», weiss Hediger.
In der Praxis gelingt es Lehrpersonen, auch heikle Themen zu behandeln, wenn sie sich an zwei Grundprinzipien des «Beutelsbacher Konsenses» halten, der 1976 in Deutschland entworfen wurde: Gemäss dem «Überwältigungsverbot» (auch: Indoktrinationsverbot) dürfen Lehrpersonen den Schülerinnen und Schülern ihre eigene Meinung nicht aufzwingen. Und das Gebot der «Kontroversität» postuliert, dass in Wissenschaft und Politik kontroverse Themen auch kontrovers behandelt werden. In der Ausbildung zur politischen Bildung beobachtet Rolf Gollob immer wieder, wie die anfänglichen Bedenken der Studierenden weichen: «Wenn die Studierenden begreifen, wie sie schwierige politische Themen nicht auflösen, sondern kontrovers behandeln können, freuen sie sich auf den vielseitigen Unterricht.»