«Im Prinzip hat jedes Thema in der Schule einen politischen Aspekt»

Lukas Golder, Politologe und Co-Leiter des Forschungsinstituts GfS Bern, verdankt einem engagierten Lehrer seine Berufswahl. Er betont die Bedeutung der Schule für die Stabilität der direkten Demokratie und befürwortet eine Stärkung der politischen Bildung. An eine neue Jugendbewegung glaubt er nicht.

Politikwissenschaftler Lukas Golder vor dem Bundeshaus in Bern. Fotos: Nelly Rodriguez

Akzente: Waren Sie ein braver Schüler?
Golder: Einer mit zwei Seiten: In der Anwesenheit der Lehrer ein mitdiskutierender, streberhafter Schüler. Aber ansonsten einer, den viele andere Dinge interessierten und der durchaus auch mal «Seich» machte.

Wie prägend war die Schule für Ihr Interesse an Politik und Ihre Berufswahl?
Sie war sehr prägend. Wir hatten in unserem Gymnasium Neufeld in Bern einen Geschichtslehrer, dem die Staatskunde sehr am Herzen lag. Er war ein klassischer Citoyen, also ein verantwortungsvoller Bürger, sehr ernsthaft, sehr engagiert. Seine Begeisterung für die Mechanismen der direkten Demokratie war ansteckend.

Wie gut sind Schweizer Schulabgängerinnen und -abgänger heute politisch informiert?
Das ist sehr individuell. Es gibt viele tolle Projekte wie Klassenräte, Bundeshausbesuche, Wahldebatten im Klassenzimmer. Wer auf eine politisch interessierte Lehrperson trifft, bekommt viel mit.

Wo stehen wir im internationalen Vergleich?
Laut verschiedenen Studien befinden sich Schweizer Jugendliche in Sachen politisches Wissen und Kompetenzen im unteren Mittelfeld. Dies ist umso kritischer zu bewerten, als die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in der direkten Demokratie besonders viel Einfluss haben. Wir setzen sehr viel politisches Wissen voraus und erreichen mit unserer Bildung gesamthaft zu wenig.

Ist politische Bildung nicht Aufgabe der Eltern?
Das war einmal so. Heute sind viele Eltern Zuwanderer, die weder selber abstimmen können noch mit unserem politischen System vertraut sind. Die Schweizer Eltern sind zunehmend apolitisch. Wenn wir den Kindern das Verständnis für unser politisches System nicht in der Schule vermitteln, dann werden sie es gar nicht haben. Und das gefährdet die direkte Demokratie.

Sie dramatisieren.
Keineswegs. Fehlen politisches Wissen und die Kenntnisse der Argumente, dann wird die direkte Demokratie zur reinen Stimmungsdemokratie. Es kommt an der Urne zu Zufallsentscheidungen, Mehrheitsentscheide werden nicht mehr akzeptiert, es kommt zur maximalen Polarisierung. Die Folge wäre eine Blockade des Landes.

Ist die Schule für die politische Bildung also wichtiger denn je?
Davon bin nicht nur ich überzeugt. Wir haben dazu 2014 eine Umfrage gemacht: 77 Prozent der Befragten sehen mehr Schweizer Politik im Unterricht als wichtigsten Faktor für eine stabile Demokratie. Eine Mehrheit sieht den Stellenwert der politischen Bildung sogar gleich hoch wie das Fach Mathematik.

Was sind die wichtigsten Ziele von politischer Bildung?
Wir müssen das Debattieren lernen. Wir müssen verstehen lernen, dass es nicht wahr und unwahr gibt, sondern bessere und schlechtere Argumente. Wir müssen lernen, dass die Schweiz ein fragiles Gebilde aus Minderheiten ist. Mehrheitsentscheide brauchen ein Fundament, sie müssen austariert sein.

Klingt abstrakt. Wie erreicht man die Schülerinnen und Schüler?
Indem man ihnen aufzeigt, dass politische Themen mit dem eigenen Leben zu tun haben. Das ist anspruchsvoll, bringt aber am meisten. Im Prinzip hat jedes Thema in der Schule einen politischen Aspekt, sogar die Entscheidung, wohin die Schulreise gehen soll. Neben der  Wissensvermittlung steht für mich das lustvolle Debattieren im Zentrum. Das Argumentieren und Ringen um Lösungen.

Welche Themen interessieren die Jungen?
Die Themen werden stark von den Medien diktiert. Bestes Beispiel ist die Diskussion um den US-Präsidenten Trump, der auch bei den Jungen auf starkes Interesse stösst.

Finden Sie das Ausland spannender als das Inland?
Nicht generell. Neben den globalen Themen wie Terror, Kriege oder Umwelt interessieren auch immer wieder nationale Themen. Bestes Beispiel war die Durchsetzungsinitiative: Sie hat die Jungwähler mehr mobilisiert als jede andere Abstimmung in den letzten 20 Jahren.

Apropos Abstimmungen: Nimmt die Stimmbeteiligung der Jungwählerinnen und -wähler tendenziell ab?
Schwierig zu sagen. Was wir wissen: Bei den Jungen gehen in einer Zeitspanne von vier Jahren mindestens 80 Prozent einmal abstimmen. Ich gehe davon aus, dass der Anteil der Jungen, die wählen gehen, tendenziell steigt, aber extrem themenabhängig ist. Fakt ist aber auch, dass die Gesellschaft altert und damit der Altersdurchschnitt der Stimmberechtigten steigt. Eine Studie von Avenir Suisse zeigt, dass der Mittelwert (Median) der Stimmenden schon bald bei 60 Jahren liegt. Die Jungen werden also immer mehr überstimmt.

Befürworten Sie die Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre?
Ich fände das sehr sinnvoll. Es würde damit direkt an das Ende der obligatorischen Schulzeit anschliessen und hätte positive Begleiteffekte. Man müsste Politik in der Schule mehr thematisieren, die Jungen würden somit früher in den politischen Prozess eingebunden und müssten sich früher interessieren.

Stellt die Jugend das politische System in Frage?
Nein. Laut CS-Jugendbarometer sehen 65 Prozent der Jugendlichen keinen Reformbedarf des politischen Systems. Rebellisch wird man, wenn man sich betrogen fühlt von der älteren Generation. Dieses Gefühl ist nicht vorhanden. Viele Kinder sind heute Wunschkinder, die fast alles bekommen.

Ist diese Generation konservativer als ihre Eltern?
Das klassische Links-Rechts-Schema verschiebt sich. Die Generation Y, geboren zwischen 1980 und 2000, war die vielleicht privateste Generation. Individualoptimierer, die niemandem auf den Fuss traten. Ihre Grossdemonstration war die Streetparade, die apolitischste aller Demonstrationen. Das hatte einen konservativen Touch.

Gilt das auch für die nachfolgende Generation Z?
Die Generation Z ist die Selfie-Generation. Sie ist es gewohnt, sofort Antwort auf ihre Bedürfnisse zu erhalten, und verfolgt ihre Ziele vehementer. Berührt sie ein Thema, führt das punktuell zur Aktivierung via Social Media. Ein Beispiel ist «Bye-bye Billag» – die erste politische Facebook-Gruppe der Schweiz. Auch die Schülerproteste gegen den Abbau von Bildungsfinanzen im vergangenen Frühling sind ein Hinweis darauf, dass eine aktivere Generation heranwächst mit ultimativen Forderungen und Ego-Ansprüchen.

Zeichnet sich eine neue Jugendbewegung ab?
Nein, zumindest nicht im klassischen Sinn mit Kundgebungen und revolutionären Parolen. Jugendbewegungen entstehen heute spontaner und werden elektronisch vernetzt. Politiker und Parteien werden solche Proteste künftig schneller aufnehmen und sofort Veränderungen einfordern. Auch dies trägt zur erwähnten Entwicklung der Stimmungsdemokratie bei.

Was wünschen Sie sich betreffend politischer Bildung in der Schule?
Die Reform des Lehrplans 21 hat gewisse Kompetenzen definiert und klingt vordergründig gut. Aber der Stellenwert der politischen Bildung ist weiterhin zu tief. Es braucht deshalb eine umfassende nationale Strategie. Das Einsehen, dass es ein übergeordnetes eidgenössisches Interesse gibt an der politischen Bildung der Jugend.

Steht das zur Debatte?
Es gibt ein Postulat, welches von nicht weniger als 31 Ständeräten überwiesen worden ist, das eine umfassende Strategie für die politische Bildung in der Schweiz fordert. Ihr Ziel ist es, die politische Mitwirkungskompetenz der gesamten Bevölkerung langfristig zu erhalten und zu fördern. Ein Beleg, dass in dieser Frage ein überparteiliches Interesse in allen Landesteilen besteht.

Lukas Golder: «Wir setzen in der Schweiz sehr viel politisches Wissen voraus und erreichen mit unserer Bildung gesamthaft zu wenig.»