«Ich bin ja auch schon ein Weilchen wach»

Lukas Ziehler ist Steinmetz-Lehrling im zweiten Lehrjahr. Da bloss in Bern und St. Gallen schulische Ausbildungsmöglichkeiten für diesen nicht ganz alltäglichen Beruf angeboten werden, nimmt der Schaffhauser jede Woche einen Schulweg von insgesamt knapp fünf Stunden auf sich. Ein Problem ist das für den 20-Jährigen indes nicht.

Montagmorgen kurz vor sieben Uhr am Bahnhof Winterthur. Die Dunkelheit der Nacht beginnt sich langsam zu verziehen. Auf dem Perron herrscht bereits reger Betrieb. Die Leute gehen mit Kaffeebecher und Gratiszeitung in der einen und Smartphone in der anderen Hand ihre Wege. Jeder für sich. Viele kapseln sich mittels Musik-Kopfhörer gar noch zusätzlich von der Aussenwelt ab. Typische Montagmorgen-Pendlerverkehrsstimmung eben.
Lukas Ziehler steht beim Gleis 4 mittendrin in einer Menschentraube, die auf den Zug nach Gossau wartet. Auch der 20-Jährige hat Kopfhörer auf und schaut gerade auf sein Handy. Von der allgegenwärtigen Morgenmüdigkeit ist bei ihm jedoch nicht mehr viel zu sehen. «Ich bin ja auch schon ein Weilchen wach», sagt Lukas lächelnd, als er seine Kopfhörer im Rucksack verstaut. Um halb sechs sei er aus dem Haus gegangen, erklärt er. Wie jeden Montagmorgen. Denn immer montags muss er sich von seinem Heimatort Hemmental in Schaffhausen auf die Reise nach St. Gallen machen. Genauer gesagt ins Gewerbliche Berufs- und Weiterbildungszentrum St. Gallen. Denn dort findet – neben Bern als einzigem Standort schweizweit – die schulische Ausbildung der Steinmetz-Lernenden statt. Lukas ist einer dieser Steinmetze.

Besondere Wirkung auf die Leute
Den Schulweg von knapp fünf Stunden – zweieinhalb Stunden hin, zweieinhalb Stunden wieder zurück – nimmt Lukas ohne Murren auf sich. «Man gewöhnt sich schnell daran», sagt er während der Fahrt nach Gossau. Besonders dann, wenn es für etwas ist, das man wirklich will und das einem gefällt. Und das tut die Steinmetz-Ausbildung, wie er sagt. Die Schule zwar etwas weniger als der praktische Alltag, aber dennoch.
Nein, einen Alltagsberuf lerne er nicht, sagt Lukas auf seine Berufswahl angesprochen. «Der Beruf Steinmetz hat auf die Leute schon eine besondere Wirkung, das merke ich beispielsweise auch hier im Zug», sagt er. Denn wenn er jeweils seine Lehrbücher herausnehme und auf dem Schulweg noch ein wenig lerne, werde er immer wieder angesprochen und gefragt, wie das denn so sei, als Steinmetz zu arbeiten. Dann gebe er natürlich gerne Auskunft.
Dass er den Steinmetz-Beruf erlernt, ist mehr dem Zufall denn einem eigentlichen Lebenslauf-Plan zu verdanken. Denn erstmal hatte Lukas Florist gelernt. Im letzten Ausbildungsjahr brach er die Lehre jedoch ab. Danach war Lukas ein halbes Jahr lang arbeitslos. «Das war keine schöne Zeit», erinnert sich der junge Mann. Als er anschliessend für eine Schnupperwoche als Steinmetz bei seinem jetzigen Arbeitgeber in Schaffhausen eingeladen wurde, sei die Freude dementsprechend gross gewesen. «Auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung hatte, was ein Steinmetz überhaupt tut», verrät Lukas lachend. Es habe dann allerdings gleich von Beginn an gepasst, sowohl beruflich als auch zwischenmenschlich im Betrieb.

Geschichtlich interessant
Nun ist Lukas im zweiten Lehrjahr – und sein Beruf gefällt ihm immer noch. Besonders die Renovationsarbeiten würden ihm zusagen. «Erst kürzlich arbeiteten wir an einem 400 Jahre alten Gebäude», erinnert sich Lukas, während der Sitznachbar im Zug bereits schon auffallend aufmerksam zuhört. Wenn man an solch alten, geschichtsträchtigen Gebäuden arbeite, sei das ein spezielles Gefühl. «Es ist eine schöne Aufgabe, etwas, das 400 Jahre gehalten hat, wieder aufzufrischen und zu erneuern, damit es weitere 400 Jahre hält», sagt Lukas. Ohnehin interessiere ihn der geschichtliche Aspekt seines Berufes sehr, fährt der Steinmetz fort. Wohl deshalb gefalle ihm das Fach Erdkunde in der Berufsschule besonders gut. Aber auch die anderen Berufsfächer wie Steinkunde, Fachzeichnen und Fachrechnen seien interessant. Etwas weniger euphorisch klingt es, wenn Lukas über den allgemein bildenden Unterricht spricht. Diese Themen wurden bereits in seiner Floristen-Lehre behandelt. Dennoch sei er voll und ganz davon überzeugt, dass die Steinmetz-Ausbildung der richtige Weg für ihn sei. Und wenn er sich weiter so entwickle, so die Signale aus seinem Lehrbetrieb, könne er nach der Lehre allenfalls auch im Betrieb bleiben.

Einfach nur sein
Mittlerweile steht Lukas in der S-Bahn nach St. Gallen Winkeln. Die Sitzplätze im proppenvollen Zug sind längst alle vergeben. Dies stellt jedoch kein Problem dar, die Fahrt dauert nur ein paar Minuten. Beim Bahnhof wartet noch ein rund zehnminütiger Fussmarsch auf ihn. Der Weg führt vorbei am St. Galler Fussballstadion. Was für einen Fussballfan vielleicht etwas Besonderes wäre, ist für den ehemaligen Unihockeyaner Lukas keinen Blick wert. Er steckt sich indes eine Zigarette an und sinniert dabei lachend, dass er derzeit, was das Sportliche anbelange, gerade «absolut hobbyfrei und dennoch glücklich» sei.
Dann ist Lukas angekommen, eine Bus-, drei Zugfahrten sowie der eine oder andere Fussmarsch später und zweieinhalb Stunden nachdem er um halb sechs von zuhause aufgebrochen ist. Nach der Schule gibt’s dasselbe nochmals in umgekehrter Richtung. Um halb acht Uhr abends sei er dann schliesslich wieder zuhause. «Dann falle ich nur noch ins Bett», sagt Lukas lachend, als er sich verabschiedet. Aber eben, man gewöhne sich relativ schnell daran. Und sowieso sei er ja eigentlich ein ÖV-Kind und geniesse die Zeit im Zug sogar. Denn hin und wieder einfach mal nichts tun und ein bisschen aus dem Fenster schauen sei doch auch nicht so schlecht.

Serie «Mein Schulweg»
In der Serie «Mein Schulweg» stellen wir in diesem Jahr Schulwege in der Schweiz vor. Der Text wird jeweils von einem Journalisten erstellt, die Fotos machen die Kinder und Jugendlichen selber. Dieser Beitrag bildet den Abschluss der Serie.