Mario Bernet: Auf der Suche nach einer gehaltvollen Metapher für den Begriff «Lernen» bin ich auf diesen Satz gestossen: «Die Bienen plündern hier und dort die Blumen, aber sie machen nachher daraus Honig, der ganz ihr Werk ist; es ist nicht Thymian noch Majoran.» Wie klingt dieses Zitat für dich?Ruedi Isler: Ich schaffe es nicht, die Tiefe des Gedankens wirklich zu ermessen, aber dennoch gefällt mir die Metapher besser als eine Definition, die ich kürzlich gelesen habe: «Unter Lernen versteht man die hypothetischen Prozesse, die den Verhaltensänderungen durch Erfahrung entsprechen.»
Bernet: Das mit den Bienen und dem Honig hat Michel de Montaigne geschrieben, ein ganz dicker Fisch. Aber der Satz ist über 400 Jahre alt, und Montaigne war alles andere als ein professioneller Didaktiker. Die von dir zitierte Definition ist dagegen sprachlich schwere Kost und löst sich bei näherem Hinsehen in Luft auf. Dabei sollte die moderne Didaktik mehr aussagen können als der alte Amateur Montaigne. Kennst du noch weitere Beispiele
Isler: Gut, zitieren wir aus einer hochaktuellen Studie. Was meinst du zu: «Erstes und letztes Ziel unserer Didaktik soll es sein, die Unterrichtsweise aufzuspüren, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; und bei der in den Schulen weniger Lärm zugunsten von mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhaftem Fortschritt herrscht.»
Bernet: Hübsch, was du da ausgegraben hast! Mehr Freiheit und Vergnügen, wahrhafter Fortschritt – trefflicher kann das Projekt der Moderne nicht auf den Punkt gebracht werden. In diesem Sinne ist der Vorspann zur «Grossen Didaktik» von Comenius, aus dem du zitierst, noch immer aktuell. 17. Jahrhundert, wer hätte das gedacht! Sollten wir in der Lehrerbildung wieder Comenius lesen?
Isler: Nicht zwingend – und übrigens auch nicht Fröbel, der forderte, dass «unter Sorgfalt erfahrener einsichtiger Gärtner im Einklang mit der Natur die Gewächse gepflegt werden sollen». Gemeint hat er übrigens die Kinder. Gleichzeitig aber auch nicht unbedingt nur akademisches Geschwurbel mit Sätzen wie «Auf der ersten Stufe ist die lernende Person mit Informationen auszustatten, die erste Erfahrungen in der Domäne ermöglichen sollen.»
Bernet: Sicher würde auch ich die drei angesprochenen Ahnen nicht zu tragenden Säulen einer zeitgemässen Pädagogik und Didaktik erheben. Aber sie erinnern daran, dass Nachdenken über Erziehung und Schule nicht zwangsläufig auf einen nebulösen Jargon hinauslaufen muss. Gewiss: An Konstruktivismus, Kompetenzorientierung und Diversity-Diskurs führt heute kein Weg vorbei. Aber ich bemühe mich, diese Begriffe zurückhaltend zu verwenden. Sonst werden sie zu leeren Worthülsen, die zum Weghören einladen.
Isler: Ich werde gerne etwas deutlicher. Wohin wir auch schauen, kein sprachliches Land in Sicht. Im Pathos der alten Pädagogen kann man noch den Weihrauch riechen, gleichzeitig führen die pädagogischen Hypes der Gegenwart unsere Feder und diktieren uns die immergleichen Begriffe. Überall floskelhafte Leerformeln! Zudem entstellt die Hegelsche Tradition der unverständlichen deutschen Wissenschaftssprache die Texte unserer Freunde in der Scientific Community. Manchmal frage ich mich, ob wir Pädagogen wirklich wissen, was wir sagen wollen.
Von Bienen und Gärtnern
Mario Bernet (links) war 15 Jahre Primarlehrer und ist jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter an der PH Zürich, Ruedi Isler ist Pädagogikprofessor. Sie unterhalten sich an dieser Stelle über ein aktuelles Schulthema.