Guter Deutschunterricht schafft heute einen persönlichen Zugang zur Sprache und lässt gleichzeitig Raum für systematisches Üben. Dies beginnt bereits im Kindergarten. Auch in anderen Fächern soll in der Schule an der Sprache gearbeitet werden.
- Fotograf Dieter Seeger hat Lehrerin Barbara Beziak und ihre 2. Primarklasse in Männedorf im Deutschunterricht fotografisch begleitet.
Einst war es das Fernsehen, später waren es die Comics, dann die Anglizismen. Sie alle sollten schuld sein an einem angeblichen Sprachzerfall. Klagen über einen weitreichenden Verlust der Sprachkompetenzen haben in jüngster Zeit wieder Konjunktur. Verantwortlich gemacht werden dabei häufig neue Kommunikationsmedien. Steckt dahinter mehr als ein kulturpessimistisches Unbehagen gegenüber einem natürlichen Sprachwandel? «Die Kritik ist durchaus berechtigt. Heute ist es nicht mehr selbstverständlich, dass sich Maturanden und Hochschulabgänger schriftlich korrekt und stilsicher ausdrücken können», sagt Thomas Dütsch, der an der PH Zürich den Bereich Deutsch/Deutsch als Zweitsprache in der Eingangsstufe leitet. Auch bei Studierenden der PH Zürich beobachtet er immer wieder Unsicherheiten bezüglich der Beherrschung der Standardsprache. So werden die Coaching-Angebote für Seminar- und Abschlussarbeiten des Schreibzentrums der PH Zürich sehr rege genutzt. Studierende seien froh um diese Unterstützung, so Dütsch.
Die Erklärung für diese Entwicklung setzt nicht bei den neuen Kommunikationsmedien an, sondern bei einem auf die 68er-Bewegung folgenden didaktischen Paradigmenwechsel. Im Zuge der sogenannten kommunikativen Wende bewegte sich die Schule damals vom eindimensionalen, hierarchischen Frontalunterricht hin zu offeneren, dialogischeren Lernkonzepten. Das gesprochene Wort wurde gegenüber der Schriftlichkeit aufgewertet. Im Deutschunterricht verdrängten authentische Schreibanlässe mit Lebensweltbezug die an grammatikalischen Normen und Repetition orientierte Wissensvermittlung. Verworfen wurde auch die Annahme, dass lediglich eine einzige korrekte Sprache existiere. Stattdessen baute der Unterricht fortan auf verschiedenen Sprachregistern auf, die je nach Situation gezogen werden können.
Die Abkehr von einem normativen Sprachverständnis schlug sich auch in den Rechtschreibereformen zwischen 1996 und 2006 nieder, die neu für bestimmte Wörter orthographische Varianten zulassen. Dass einige Wörter auf verschiedene Arten geschrieben werden können, während es bei anderen nur eine richtige Schreibweise gibt, erweckt den Eindruck, dass Rechtschreibung verhandelbar sei, und wurde von vielen keineswegs als Erleichterung für den Grammatik- und Orthographie-Erwerb eingeschätzt.
Schrift erfahrbar machen
«Die Öffnung des Unterrichts zu mehr textueller Vielfalt war wichtig, weil befreiter und mutiger geschrieben wurde und kreative Aufgabenstellungen einen lustvolleren Zugang zum eigenen Schreiben schufen», so Dütsch. Mit der Ausrichtung auf Anwendungskompetenzen sei aber das Regelwissen ein Stück weit verloren gegangen. Die Resultate der ersten PISA-Studie im Jahr 2000, die den Schweizer Schülerinnen und Schülern erhebliche Mängel hinsichtlich der Lesekompetenzen attestierte, führte schliesslich zu einem Umdenken in der Deutschdidaktik. «Der PISA-Schock machte deutlich, dass wieder systematisch geübt werden musste», so Dütsch. Heute werden auf Primar- und Sekundarstufe wieder mehr Lese- und Schreibtrainings in den Unterricht integriert, wobei auf binnendifferenzierte Aufgaben und kollektive Lernformen gesetzt wird. So schreiben Kinder etwa gemeinsam an Texten, tauschen sich nach kurzen Leseeinheiten paarweise über den Inhalt aus oder lesen sich gegenseitig Texte vor, womit sichergestellt wird, dass wirklich alle Schülerinnen und Schüler die eingeplante Zeit zum Lesen nutzen. Auch die leistungsstärkeren Tandempartner profitieren vom Austausch, wenn sie Grammatikregeln und Wörter erklären müssen oder durch das Nacherzählen von Geschichten ihr Verständnis für Erzählstrukturen verbessern.
Leseerlebnisse attraktiv und persönlich zu gestalten, gehört zu den zentralen Merkmalen eines guten Deutschunterrichts. Das Vorlesen durch die Lehrperson ist daher auch auf der Mittelstufe, wenn Kinder bereits automatisiert lesen, pädagogisch wertvoll, da über das Medium Buch ein Raum der kompletten Aufmerksamkeit und sozialen Nähe entsteht. Zudem sollten sich Lehrpersonen ihrer Vorbildrolle bewusst sein und stets eine korrekte, sorgfältige Sprache pflegen und Fehler vermeiden, die gerade leistungsschwache Schülerinnen und Schüler nicht richtig einordnen können. Um die Kinder für das freiwillige Lesen ausserhalb der Schule zu motivieren, dürfen Lehrpersonen auch einmal von eigenen, positiven Leseerfahrungen erzählen. Dies wird besonders in der dritten und vierten Klasse wichtig, wenn viele Kinder in eine wertvolle Viellesephase hineinkommen. Ein besonderes Augenmerk soll dabei den Jungen gelten, die oft viel später als Mädchen – oder gar nicht – in eine Viellesephase geraten. Geschlechtergerechte Leseangebote, die Action-, Fantasy- und technisch ausgerichtete Literatur oder Buch-Game-Verknüpfungen umfassen, können hier ein Stück weit Abhilfe schaffen.
Vorteil literale Erziehung
Guter Deutschunterricht beginnt allerdings nicht erst auf Primarschulstufe, da der erfolgreiche Aufbau von Sprach- und Schriftkompetenzen massgeblich von frühkindlichen Erfahrungen mit Sprache und Schrift abhängt. Deshalb dreht sich in der Sprachdidaktik der Eingangsstufe seit einigen Jahren vieles um den Begriff der Literacy (deutsch: Literalität), der frühe umfassende Erfahrungen mit Schrift und dem Medium Buch im Fokus hat. Da eine literale Erziehung die Basis für den Erwerb der Schreib- und Lesekompetenz bildet, sollte ein Kind möglichst früh mit Büchern und erzählten Geschichten in Kontakt kommen und ein anspruchsvolles Sprachangebot erhalten. Dieses beinhaltet neben einem breiten Wortschatz auch die Konfrontation mit komplexen Formulierungen und Erklärungen, also einem argumentativen Sprachgebrauch neben alltäglichen, einfachen Verständigungsformen. Weil der Erwerb der Muttersprache und die Entwicklung des Sprachbewusstseins primär beiläufig, also abseits der Schule, über Abzählreime, das Gespräch beim Abendessen oder die Gutenachtgeschichte geschehen, haben Kinder sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Gerade deshalb muss die Schule für mehr Chancengerechtigkeit die Sprachentwicklung im Kindergarten sehr gezielt fördern.
Dabei reicht es nicht aus, mit den Kindern möglichst viel in einer elaborierten Sprache zu sprechen. «Die Theorie des sogenannten Sprachbads ist heute überholt. Zur Stärkung der kindlichen Sprachfähigkeiten sind konkrete Übungssettings nötig», erklärt Dütsch. Die Sprachförderung in Kindergarten setzt daher mit Übungen für ein phonologisches Bewusstsein ein, die den späteren Schrifterwerb nachweislich erleichtern. So lernen Kinder etwa Geräusche wie rieselnden Sand oder knackende Nüsse unterscheiden oder über Verse beim Znüniritual Endreime erkennen und Silben klatschen. Neben solchen Übungen ist ein handlungsbegleitetes Sprechen für den Wortschatzerwerb zentral. So beschreibt eine Kindergartenlehrperson idealerweise gleichzeitig, was sie jeweils tut, sagt, dass sie den Apfel schält oder ein Couvert zuklebt. Auch werden vor dem Erzählen eines Märchens zentrale Begriffe wie die Burg oder die Spindel über mitgebrachte Gegenstände eingeführt, möglicherweise wird zudem die Handlung bereits im Voraus zusammengefasst, um die Kinder für die Gliederung der Geschichte zu sensibilisieren.
Deutsch als Zweitsprache
Die schrittweise Heranführung an das Verstehen von Inhalten ist für Kinder, die erst bei der Einschulung oder einem Zuzug in die Schweiz Deutsch lernen, besonders wichtig. Für sie stellt der Schulalltag insofern eine mehrfache Herausforderung dar, als sie nicht nur eine zusätzliche Sprache lernen, sondern sich alle Unterrichtsinhalte in einer fremden Sprache aneignen müssen und eigene Bedürfnisse nur schwer mitteilen können. «Für diese Kinder wäre ein möglichst intensiver Sprachunterricht beim Schuleintritt ideal», sagt Rita Tuggener, Dozentin für Deutsch und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) an der PH Zürich. «Damit sie danach den Anschluss an die Gleichaltrigen finden und sich gut in die Regelklassen integrieren, sollte dieser jedoch nicht länger als ein Jahr dauern.»
Wie umfangreich heute dieser DaZ-Unterricht tatsächlich ausfällt, hängt von der Anzahl Kinder mit Anspruch auf DaZ-Unterricht in einer Gemeinde ab. Über einen Verteilschlüssel mit kantonal bestimmten Mindestansätzen wird ein Lektionenpool berechnet, aus welchem sich verschiedene Modelle vom umfassenden Unterricht in einer reinen DaZ-Klasse bis zu reduzierten DaZ-Wochenlektionen neben dem Besuch des Regelunterrichts ergeben. Spätestens ab dem zweiten Jahr treten die Kinder in die Regelklasse ein und der DaZ-Unterricht reduziert sich stark. Gemäss Tuggener können ein integrierter DaZ-Unterricht in der Regelklasse und die enge Zusammenarbeit zwischen Regel- und DaZ-Lehrperson den systematischen Sprachaufbau und das rasche Überwinden der Sprachhürden unterstützen.
Während DaZ-Lehrpersonen nach ihrer Ausbildung zur Klassenlehrperson einen CAS DaZ absolvieren müssen, werden Regelstudierende in der Ausbildung an der PH Zürich in einem obligatorischen Modul für die spezifischen Bedürfnisse von DaZ-Kindern sensibilisiert. «Klassenlehrpersonen müssen lernen, wie sie binnendifferenzierte Aufgabenstellungen konzipieren, die auch Anderssprachige verstehen und lösen können», erklärt Tuggener. Bei Schreibaufgaben können Kinder etwa mit Hilfe raffinierter Textgerüste unterstützt werden: Zuerst werden ganze Textbausteine, später nur noch einzelne Formulierungen zur Verfügung gestellt. Zudem werden Fehler selektiv, nach klaren Kriterien korrigiert. Bei Leseübungen kann die Komplexität schrittweise über basale Fragen mit angebotenen Teilantworten reduziert werden. Orientierungshilfen brauchen die Kinder jedoch nicht nur im Deutschunterricht, sondern ebenso bei Mathematikaufgaben oder Texten im Bereich Mensch und Umwelt. Damit fehlende Deutschkompetenzen nicht das Verstehen blockieren, sollen zentrale Begriffe und logische Verknüpfungen wie «je … desto …» sorgfältig eingeführt werden.
Stolperstein Fachtext
Auch Schülerinnen und Schüler mit deutscher Muttersprache scheitern in Fachbereichen wie Biologie, Geschichte oder Geografie nicht selten an der sprachlichen Komplexität von Fachtexten und Textaufgaben. Hansjakob Schneider, Professor für Deutsch an der PH Zürich untersuchte das Verständnis von Biologie-Texten bei Sekundarschülerinnen und -schülern in einer Studie des Schweizerischen Nationalfonds (SNF). «Im Extremfall verstanden Jugendliche nach dem Lesen der Texte weniger vom Thema als zuvor, weil die Lektüre ihr Vorwissen durcheinanderbrachte», sagt Schneider. Verwirrung stifteten beispielsweise Metaphern, die in naturwissenschaftlichen Schulbuchtexten der Anschaulichkeit halber häufig verwendet werden, aber zum Teil falsche Assoziationen produzieren. So wurden in einem Text Lungenbläschen mit Seifenblasen verglichen, was bei einigen Schülerinnen und Schülern die Vorstellung erweckte, in der Lunge werde etwas Ähnliches wie Seife produziert. Verständnisprobleme entstanden ausserdem, wenn Wortwiederholungen aus stilistischen Gründen vermieden wurden und Knospen fälschlicherweise als junge Blumen oder als Blüten bezeichnet wurden. Zum Teil verstanden die Jugendlichen auch zentrale wissenschafts- oder fachspezifische Begriffe nicht.
In neu überarbeiteten Lehrmitteln wird deshalb auf unnötige Stilmittel verzichtet, zudem werden Erklärungen von Fachbegriffen und strukturierende Leseanleitungen integriert. Für ein optimales Leseverständnis sollten die Lehrpersonen mit der Klasse an einem Wortschatzaufbau von wissenschaftsspezifischen Begriffen arbeiten sowie an Lesestrategien und Techniken wie dem Markieren und Zusammenfassen wichtiger Textstellen. Dies hilft den Jugendlichen später, in der Berufswelt selbstständig einen Zugang zu Fachtexten zu finden.
Hansjakob Schneider weist zudem auf eine weitere Herausforderung beim Übertritt in die Berufswelt hin: Eine stilistisch versierte Sprache mit langen, erörternden Sätzen sei in vielen Berufen, in denen zielgerichtete Arbeitsanweisungen erteilt werden, wenig hilfreich. Deshalb sollten Schreibübungen auf der Oberstufe funktionale Aspekte der Sprache berücksichtigen. Texte müssen also situiert werden, was Überlegungen zum Zielpublikum beinhaltet, aber auch zum Platz, der zur Verfügung steht, sowie zur Wirkung, die man erzielen will. Laut Schneider wird das Bewusstsein, wo man wie kommuniziert, heute durch neue Kommunikationsmedien wie Whatsapp oder Twitter gestärkt.
Abgesehen von diesem Effekt spaltet die Frage, ob die Nutzung von digitalen Medien Lese- und Schreibkompetenzen schwächt oder stärkt, die Fachwelt. Auf der einen Seite werden eine positivere Einstellung gegenüber Sprache und der kreative Umgang mit Schrift angeführt, auf der anderen Seite eine geringe Sprachqualität und ein Verlust des Regelwissens durch Korrekturprogramme. «Abwehrende Haltungen verkennen, dass digitale Medien schlicht nicht mehr wegzudenken sind», sagt Schneider. Damit die Schule Kinder nicht «an der Welt vorbei» ausbilde, gelte es das Potenzial neuer Medien intelligent für den Unterricht zu nutzen. Als Beispiel dafür, dass die Angst vor digitalen Medien unbegründet ist, nennt Schneider die Internetplattform myMoment, auf der Primarschülerinnen und -schüler sich über ihre Erlebnisse austauschen, ohne von Lehrpersonen korrigiert zu werden. Wie eine Studie der Pädagogischen Hochschule FHNW zeigte, lernten die Schülerinnen und Schüler dabei nicht nur, Texte interessanter aufzubauen und Titel attraktiver zu gestalten. Auch verbesserten sie teilweise ihre Rechtschreibung dank der Kommentare von Klassenkameraden.
Sie beklagen sich, dass «neu» orthografische varianten zugelassen werden, was den eindruck erwecke, dass rechtschreibung verhandelbar sei. Der grund ist allerdings nicht eine kommunikative wende, sondern pragmatismus: «Das Ergebnis der Orthographischen Konferenz von 1901 war nur dadurch zustande gekommen, daß die Anhänger verschiedener Richtungen sich gegenseitig Zugeständnisse machten. Das geschah meistens durch Zulassung von Doppelschreibungen […]. Den Gelehrten, die sich über Formen wie Akzent, Kuvert u. dgl. entsetzten, stellte man nach wie vor Accent, Couvert zur Verfügung. So stehen denn die gelehrten Schreibungen oft friedlich neben den volkstümlichen.» So erklärt es Konrad Duden anno 1905. Übrigens: Rechtschreibung ist verhandelbar! Jede menschliche setzung ist verhandelbar.
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