Der Schriftsteller Pedro Lenz entwickelte dank seiner Zweisprachigkeit früh ein ausgeprägtes Sprachbewusstsein. In Mundart kann er die sprachlichen Eigenheiten eines Milieus besser beschreiben als auf Hochdeutsch. Aus Angst vor Fehlern auf Mundart auszuweichen, hält er allerdings für keine gute Idee.
Akzente: Erinnern Sie sich an prägende Spracherlebnisse in Ihrer Kindheit?
Lenz: Als ich sehr klein war, wurde bei uns zuhause nur Spanisch gesprochen. Deutsch lernte ich sozusagen automatisch auf der Strasse. Meinem Vater war aber wichtig, dass mein Bruder und ich korrekt Deutsch lernten, deshalb begann er, uns Verse vorzulesen, etwa von Wilhelm Busch. Daher hatte ich lange die Idee, Deutsch sei eine Sprache in Versen. Zuhause hatten wir wenig Zugang zum Fernseher, wir entwickelten unsere Filme im Kopf. Dafür hatten wir viele Schallplatten mit Geschichten von Karl May, Kasperli, Trudi Gerster. Bei diesen Geschichten faszinierte mich, wie Ordnung in eine offene Ausgangslage hineinkommt, wie sich beispielsweise etwas zum Guten entwickelt.
Sie hatten also sehr früh ein ausgeprägtes Bewusstsein für Sprache?
Schon in der frühsten Kindheit musste ich für meine Mutter häufig etwas aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzen. Ich merkte, dass Wörter in Mundart einen anderen Klang haben und dass man mit ganz wenig viel sagen kann, statt «sicher nicht» sagt man «äuä». Gerade weil ich zweisprachig aufwuchs, betrachtete ich Sprache früh von aussen her, begann auf Unterschiede zu achten, wenn etwa auf einer Tafel Bienne und Biel angezeigt wurde.
Welche Rolle spielten Bücher in Ihrer Kindheit?
Als Schüler habe ich nicht viel gelesen, es war mir zu anstrengend. Trotzdem war mir das Lesen sehr vertraut, zuhause waren Texte und Bücher in Hülle und Fülle da, ich sah die Eltern Zeitung lesen. Doch ich hatte eine Buchstaben-Manie. Ich erinnere mich, wie wir in der Schule stundenlang einzelne Buchstaben auf Blätter schreiben mussten, das hat mir wahnsinnig Freude bereitet. Mit zehn bekam ich die alte mechanische Schreibmaschine meines Vaters geschenkt. Wenn ich die Tastatur mit allen Buchstaben vor mir sah, kam mir mehr in den Sinn. Bis heute schreibe ich besser mit einer Tastatur als von Hand. Eine Tastatur inspiriert mich einfach.
Welche Erinnerungen haben Sie an den Deutschunterricht?
Keine sehr guten. Ich hatte zwar Freude am Sprachunterricht, aber ich erhielt in der Schule nie das Gefühl, ich könne schreiben und Schriftsteller werden. In der Orthographie war ich zwar gut, doch Aufsätze waren für mich ein Problem, weil Wiederholungen von Satzstrukturen oder von Wörtern rot angestrichen wurden. Heute ist das ein Stilmittel von mir, viermal dasselbe Adjektiv zu verwenden. Vielleicht hätte es neben dem Aufsatzschreiben nach Normen mit Einleitung, Hauptteil und Schluss etwas Spielerisches wie Creative Writing geben sollen.
Wie stellen Sie sich guten Deutschunterricht vor?
Guter Deutschunterricht sollte nicht defizitorientiert sein, sondern bei Schülerinnen und Schülern das hervorheben, was bereits vorhanden ist. In Workshops von mir in Schulen sagen viele Schüler bereits zu Beginn: «Ich bin schlecht in Deutsch.» Wenn einer als Erklärung anbringt, er sei eben Türke, zeige ich ihm, dass er sogar eine Sprache mehr als die meisten kann und sich dies zu Nutzen machen soll. Auch bei der Arbeit mit Legasthenikern ist eine Defizitorientierung schädlich: Für sie wirkt es oft sehr befreiend, wenn sie ihre Texte nur vorlesen und kein Blatt abgeben müssen. Wenn sie einen Text voll mit rot markierten Fehlern zurückerhalten, sagen sich viele: Das ist nicht meine Welt. Ich bin jedoch sicher, dass die Pädagogik heute weiter ist als damals.
Wie kamen Sie zur Mundart-Literatur?
Als ich etwa zehn war, nahm ich Schweizer Lieder wie «Kiosk» auf Kassetten auf und transkribierte sie auf der Schreibmaschine. Da merkte ich, dass die Schreibweise in Mundart freier ist. Später, als ich bereits Texte in Hochdeutsch veröffentlicht hatte, erfand ich für «Das kleine Lexikon der Provinzliteratur» fiktive Mundartautoren mit Textbeispielen und erkannte, dass mir das Spass machte. Doch ich hatte der modernen Mundart-Literatur gegenüber Vorbehalte. Ich hatte das Gefühl, dass Autoren Begriffe, die kein Mensch mehr brauchte, auf dem Tablett präsentierten, um zu zeigen, wie toll diese Sprache ist. Zudem dachte ich, Mundart sei für Ausländer nicht verständlich und es bestehe kein Markt dafür.
Wie kam es trotzdem zu Ihren Mundart-Veröffentlichungen?
Den Ausschlag gab ein längerer Aufenthalt in Schottland, wo mich die Leute ermutigten, in meiner Alltagssprache zu schreiben. Sie verglichen meine potenziellen Leser mit der Anzahl Letten, Finnen oder Esten, die ihre eigene Literatur haben. Das ermutigte mich. Als mein erster Roman «Dr Goalie bin ig» herauskam, erkannte ich, dass Mundart für die Leser keine Hürde darstellt. Natürlich sagen einige Leute, sie hätten Mühe gehabt beim Lesen. Doch Mühe ist kein Argument bei Literatur.
Wie steht es um Ihr Verhältnis zur hochdeutschen Sprache? Sind Sie in der Standardsprache ein anderer Pedro Lenz?
Wenn ich Hochdeutsch schreibe, bin ich etwas distanzierter, aber nicht eine andere Person. In beschreibenden Texten und in indirekter Rede fällt es mir leicht, Hochdeutsch zu schreiben. Sobald es aber um die Sprache einer Figur in einem bestimmten Milieu geht, fühle ich mich in Mundart wohler. Ich habe ja zum Beispiel keine Ahnung davon, wie ein Arbeiter auf Hochdeutsch ein Bier bestellt. Da ich lange auf dem Bau gearbeitet habe, weiss ich, welche Wörter ein Arbeiter braucht und ich kenne die Eigenheiten seiner Sprache. Wenn ich weiss, wie eine Figur spricht, sehe ich sie klar vor mir.
Mundart liegt generell im Trend, in Chats, in der Werbung, in der Musik. Woher kommt das?
Ein Grund, weshalb in Chats und SMS Mundart benutzt wird, ist die Bequemlichkeit. Man will sich auch nicht blamieren, etwas falsch zu schreiben. Das ist ein grosses Problem. Ich kenne Erwachsene, die machen in einem Mail zehn Orthographiefehler. Sie sind sich dessen bewusst und zeigen das Mail jemandem, wenn es wichtig ist. Sonst schreiben sie eben in Mundart.
Ist das nicht eine negative Entwicklung?
Doch. Dass so viel in Mundart geschrieben wird, ist per se zwar keine schlechte Entwicklung. Der Grund dafür ist aber bedenklich. Ich finde, dass man zumindest eine Sprache sattelfest beherrschen sollte, bevor man Varianten ausprobiert. Will man ein Spiel abändern, sollte man die Grundregeln kennen. Das ist meiner Ansicht nach die Aufgabe der Schule.
Wie erleben Sie den Umgang der Jugendlichen mit Sprache?
Ich bin kein Kulturpessimist. Die Jungen sind aufmerksam, kreativ und haben eine gewisse Offenheit gegenüber Sprache, sprechen etwa besser Englisch als unsere Generation, von der Aussprache her auch besser Hochdeutsch. Wenn Jugendliche in einem Balkan-Slang sprechen und merken, dass Leute wie ich diesen aufnehmen, gehen sie schnell wieder davon weg. Um auf die Schule zurückzukommen: Sie dürfte dem Sprachwandel gelassener begegnen, Wörter, die unschön klingen oder falsch ausgesprochen werden, spielerischer thematisieren. Bei Kindern in der Nachbarschaft beobachte ich, dass sie Wörter plötzlich anders betonen. Die Mehrheit sagt jetzt «Kólleg» statt «Kollég». Das finde ich nicht schlimm. Wäre ich Lehrer, würde ich fragen, wer «Kollege» wie ausspricht und gemeinsam einen Text entwerfen, in dem wir diese Varianten gegenüberstellen. Es hilft, wenn man sprachliche Veränderungen benennen kann. Je weniger man weiss, desto eingeschränkter ist man. Ich plädiere also für einen bewussten, sorgfältigen Umgang mit der Sprache.