Die Geschichte zukunftsfähig machen

Ob 50 000 Kinderzeichnungen aufwändig digitalisieren oder alte Schulhauspläne sorgfältig restaurieren: Kulturgüter zu erhalten, geht auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Mit einem grossen Projekt werden die wertvollen Bestände der Stiftung Pestalozzianum erschlossen – nun sind die ersten Teilprojekte gestartet.

Ein schmuckloser Bau im Industrieviertel Churs, der Lift führt in den zweiten Stock, man läuft durch eine Glastüre und landet in einem langen Gang voller Türen. Von weit hinten ruft jemand: «Hier sind wir!» Michel Pfeiffer steht in seinem «DigiLab». Es ist angenehm kühl. «Genau 20 Grad», schmunzelt der Professor, «die ideale Temperatur für unsere Arbeit.» Wir sind an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur, die viel Erfahrung hat im Bereich der Digitalisierung von Kulturgütern. Deshalb hat sie den Zuschlag erhalten, die 50 000 Kinderzeichnungen aus dem Bestand der Stiftung Pestalozzianum (siehe Box am Ende des Textes) zu digitalisieren und für die Forschung zugänglich zu machen.
Michel Pfeiffer ist Professor für «Digital Asset Management» und dafür zuständig, dass die Kinderzeichnungen für die Nachwelt erhalten bleiben. «Digitale Langzeitarchivierung» nennt sich das. «Manchmal sagen meine Kollegen: Digitalisierung, das ist doch langweilig! Dabei braucht es unglaublich viel, damit die Qualität stimmt», findet Pfeiffer. Er holt seinen Mitarbeiter Vincenzo Francolino hinzu. Dieser trägt ein schwarzes Hemd, schwarze Hosen, schwarze Schuhe – er ist heute daran, die Kinderzeichnungen zu digitalisieren. «In der Dunkelkammer würde helle Kleidung stören», erklärt Pfeiffer. Dunkelkammer? Werden die Kinderzeichnungen denn nicht gescannt? Pfeiffer schüttelt den Kopf und zeigt auf eine Digitalkamera, die an einer Vorrichtung hängt. «Die Digitalisierung ist viel genauer, der Blitz schonender, die Zeichnung wird nicht erwärmt und flachgedrückt wie beim Scannen.»
Bislang haben er und sein Team etwa 4000 der Kinderzeichnungen digitalisiert. Pro Tag schaffen sie derzeit 150 Zeichnungen, Ende Jahr sollen es 200 sein. «Die Qualität ist relevant, nicht die Geschwindigkeit», betont Pfeiffer. Hat er Spass am Projekt? Er sagt: «Ja – es ist voller Herausforderungen.» Da gehe es nicht einfach um ein Gemälde, das man digitalisieren müsse, sondern um 50 000 Zeichnungen. «Für ein Projekt dieser Grössenordnung, das drei Jahre dauert, mussten wir zuerst stabile Prozesse definieren.»
Wir treten in die Dunkelkammer. Sogar die Decke ist schwarz. Pfeiffer zieht den schweren schwarzen Vorhang, jetzt spendet nur noch die Blitzanlage Licht. Vincenzo Francolino, der wissenschaftliche Mitarbeiter, streift sich hellblaue Gummihandschuhe über. Aus einer Kartonschachtel nimmt er vorsichtig eine Kinderzeichnung heraus. Sie stammt von 1968 und zeigt ein Fantasiemännchen. Er legt das Bild auf die schwarze Platte unter der Kamera und drückt den Knopf für die Vakuumpumpe – damit wird das Foto von unten angesaugt und ist schön flach. Pfeiffer betätigt am Computer den Auslöser und nur Sekunden später erscheint das Foto auf dem Bildschirm. Der Professor zeigt auf feine Striche in der Zeichnung: «Hier sieht man schön, dass das Kind das Bild mit Bleistift skizziert hat.» Die digitale Qualitätskontrolle kommt mit grünen Häkchen zurück, anders gesagt: Das Foto kann jetzt in die Bilddatenbank hochgeladen werden. Und ist bereit für den nächsten Schritt.

Zeitdokumente aus Kinderhand
Szenenwechsel. Ein grauer Dienstagmorgen. Treffen mit Anna Lehninger in einem Sitzungszimmer im 7. Stock der PHZH. Die Kunsthistorikerin betreut das Archiv der Kinder- und Jugendzeichnung der Stiftung Pestalozzianum und ist daran, mit ihrem Team die digitalisierten Zeichnungen, die sie von der HTW Chur fortlaufend erhält, zu katalogisieren. Warum ist es eigentlich so wichtig, Kinderzeichnungen für die Nachwelt zu erhalten? Sind es nicht einfach – ja, eben – Kinderzeichnungen? Anna Lehninger schüttelt den Kopf: «Es sind Zeitdokumente aus Kinderhand. Man sieht, wie Kinder und Jugendliche die Welt wahrnehmen. Sehr schön sieht man auch, wie sich der Zeichenunterricht und der Lehrauftrag mit der Zeit verändert haben.» Die Zeichnungen seien so etwas wie ein Querschnitt des Bildgedächtnisses des 20. Jahrhunderts – aus Sicht der Kinder. Für die historische Forschung ist dies enorm wertvoll, denn die Wahrnehmung der Kinder ist oft ein blinder Fleck.
Bereits hat Lehninger erste Zeichnungen gesichtet. «Es ist erstaunlich, wie stark sich der Einfluss der Geschichte, aber auch gesellschaftliche Veränderungen in den Kinderzeichnungen widerspiegeln», sagt sie. «Ab den 30ern zum Beispiel entdeckt man in den Zeichnungen immer seltener Frauen, die von Hand die Wäsche waschen.» Und in den 60ern wurde plötzlich der Naturschutz ein Thema, die Kinder zeichneten kranke Bäume und dreckige Flüsse. Auch die Darstellung der Familie änderte sich über die Jahrzehnte markant: Plötzlich ist der Vater nicht mehr nur die Person im Hintergrund, die in einem Sessel sitzt und liest, sondern aktiv etwas unternimmt mit den Kindern.
Derzeit analysiert Lehninger im Rahmen des Projekts, wie sich der Zweite Weltkrieg auf Schweizer Kinder und ihre Zeichnungen ausgewirkt hat. «Das ist teilweise sehr berührend», sagt sie. Da gibt es Zeichnungen von Luftschlachten, Brüder, die eingezogen wurden, das Leben ohne Vater, Flüchtlingszüge, Verdunkelung, Kartoffelanbau und Rationierungen – «man kann in den Zeichnungen sogar teilweise den Kriegsverlauf ablesen», sagt Lehninger. Aber nicht nur die Geschichte zeigt sich in den Zeichnungen, auch der technische Fortschritt. «In den 20ern und 30ern zeichnete man mit Bleistift, Tusche, Kreide und Aquarell, und die Formate waren sehr klein», sagt Lehninger. Danach kamen Farbstifte auf, in den 50ern Neocolor, dann Filzstifte, in den 70ern Collagen und die Masse wurden immer einheitlicher zu A4 und A3. «Das Schöne ist», freut sich die Kunsthistorikerin, «je mehr ich eintauche in die Welt der Kinderzeichnungen, umso mehr entdecke ich!»

Schulhauspläne aus dem 19. Jahrhundert
Wertvolle Kulturgüter für die Nachwelt zu erhalten, heisst nicht zwingend, dass sie digitalisiert werden. Für die zwei Bände «Plans des Maisons d’Ecole» beispielsweise ist eine ganz andere Technik gefragt – ohne Kamera und Computer, aber nicht minder aufwändig und präzise. Wir besuchen die Buch- und Papierrestauratorin Maja Stein in der Nähe von Baden. Ein idyllisches Dörfchen, ein Brunnen plätschert, alte Bauernhäuser reihen sich aneinander. Im Atelier der Restauratorin stehen die Jahrhunderte dicht an dicht. Eine hebräische Bibel aus dem Jahr 1520 liegt neben Gesangsbänden aus dem Mittelalter, ein 200-jähriges Gesetzbuch neben einer Sammlung Ledereinbände aus dem Kloster Sarnen. Im Moment stehen aber vor allem zwei Bücher im Fokus der Restauratorin: Die Sammlung «Plans des Maisons d’Ecole» aus dem Jahr 1904. Die übergrossen – je sieben Kilo schweren – Einbände aus braunem Halbleder versammeln Pläne der Zürcher Schulhäuser aus dem 19. Jahrhundert.
Im 19. Jahrhundert wurde der Grundstein für das bis heute gültige Schulsystem gelegt. 1874 wurde in der Bundesverfassung die allgemeine Schulpflicht festgeschrieben. Der Lehrberuf gewann an Ansehen und der Schulstoff wurde breiter gefasst. Statt nur Rechnen und Schreiben zu lernen, sollten die Kinder künftig auch in allgemein bildenden Fächern wie Realien, Singen, Turnen oder biblische Geschichte unterrichtet werden. Dieser neue Ansatz forderte neue Räume. Bis anhin fand die Schule auf dem Land vor allem in Wohn- und Bauernhäusern statt, in den Städten oft in ehemaligen Kloster- oder Verwaltungsgebäuden. Um die neue Wichtigkeit der Schule zu betonen, wurde der Schulhausbau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten kommunalen Bauaufgaben. Die beiden Landesausstellungen, 1883 in Zürich und 1896 in Genf, förderten zudem den Wettbewerb unter den Kantonen. Die Schulhausarchitektur dieser Zeit spiegelt das Wetteifern: Gegen Ende des Jahrhunderts entstanden immer häufiger Gebäude mit einer markanten Architektur. Das Zürcher Schulhaus Hirschengraben (1891–93) ist ein gutes Beispiel dafür: Herrschte bis anhin vor allem der klassizistische Stil vor, sticht bei diesem Bau die Stilmischung aus Gotik und Renaissance ins Auge. Die Sichtbacksteine, die Türmchen und die geschwungenen Fensterbögen galten damals als besonders modern.

Arbeit soll unsichtbar bleiben
Diese Fakten faszinieren Maja Stein – auch aus privatem Interesse: «Als die beiden Bücher kamen, habe ich nachgeschaut, ob das Schulhaus Hofacker dabei war – weil ich dort in die Schule gegangen bin. Aus beruflicher Sicht interessieren mich aber nur der Einband und das Papier.» Bei der Sammlung «Plans des Maisons d’Ecole» hat sie als Erstes die Fäden, die den Buchblock mit dem Umschlag zusammenhielten, getrennt und dabei eine schöne Überraschung erlebt: Auf der Innenseite des einen Buchrückens klebte ein Zettel mit der Aufschrift «Gruss von Christian Schneller» – ein Salut aus der Vergangenheit.
Ist das Buch zerlegt, werden die einzelnen Elemente bearbeitet. «Alles, was von Hand hergestellt wurde, versuche ich mit dem kleinstmöglichen Eingriff zu erhalten», sagt Maja Stein. Für die Fachfrau ist eine Restauration wirklich geglückt, wenn ihre Arbeit unsichtbar bleibt. Bei der Sammlung hat sie als nächstes die Pläne mit den Kartons nach Wimmis in die Nitrochemie geschickt. «Sobald ein Papier zu viel Säure hat, zerbröckelt es. Mit dem Entsäuern können wir diesen Prozess stoppen.» In einem weiteren Schritt werden kleine Risse mit Japanpapier und Kleister repariert, Oberflächenschmutz mit einem Schwamm aus Latex weggeputzt.
Dieselbe Sorgfalt wendet Maja Stein beim Umschlag an. Sie unterlegt die Fehlstellen mit eingefärbtem Leder und näht am Schluss den Buchblock wieder in den Umschlag. Was einfach tönt, ist ein tagelanger Prozess, der eine Menge Geduld, riesiges Fachwissen und einen grossen Material-Fundus erfordert. Maja Stein erfüllt alle drei Kriterien: Die gelernte Buchrestauratorin bildet sich ständig weiter, reist zu Kongressen und besucht Seminare auf der ganzen Welt. In ihrem Atelier lagern allerlei Papier, Kartons und Leder. Und fehlt ihr einmal der richtige Farbton, färbt sie das Material gleich selber ein.
Bald gehen die restaurierten Bände an die Stiftung Pestalozzianum zurück und werden dort einen besonderen Platz im Archiv erhalten. Damit künftige Generationen nicht nur erfahren, wie einst Schulzimmer und Pausenräume geplant wurden. Sondern damit sie die alten Architekturpläne auch mit den heutigen vergleichen und so die Entwicklung unserer Schule rekonstruieren können.

Fakten zum bildungshistorischen Grossprojekt:
Im Rahmen eines grossen Projektes – unterstützt mit sieben Millionen Franken vom Lotteriefonds des Kantons Zürich – werden in den nächsten Jahren die bildungshistorisch wertvollen Bestände der Stiftung Pestalozzianum erschlossen, restauriert und digitalisiert. Dabei kooperiert die Stiftung eng mit der PHZH; die Zusammenarbeit dieser beiden Institutionen hat eine lange Tradition. «Die Stiftung Pestalozzianum ist so etwas wie das Gedächtnis der Zürcher Volksschule», sagt Anne Bosche, Geschäftsführerin und Gesamtprojektleiterin. Seit etwa 150 Jahren sammelt die Stiftung alles, was mit der Volksschule zu tun hat, von Schulbüchern über Zeitschriften bis zu bildungspolitischen Dokumenten. Bosche: «So erfährt man, wie sich die Schule über die Jahrzehnte entwickelt hat – diesen Schatz wollen wir der Öffentlichkeit und der Forschung zugänglich machen.»
Im September 2016 sind die ersten zwei von fünf Teilprojekten gestartet: 50 000 Kinderzeichnungen aus dem «Archiv der Kinder- und Jugendzeichnung» werden digitalisiert, vor allem aus den 1930er- bis 1980er-Jahren. Dazu kommen Zeichnungssammlungen, die bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichen. Derzeit sind die Bilder weder in einem Katalog verzeichnet noch signiert – und darum schwer zugänglich und für die Forschung nur bedingt brauchbar. Das zweite Teilprojekt betrifft die Restaurierung, Entsäuerung, Erschliessung und Digitalisierung von verschiedenen Schriftdokumenten, darunter auch die Restaurierung von Architekturplänen von Schulhäusern aus den Jahren 1874 bis 1904. «Die Sammlung ist für uns sehr wichtig», sagt Michael Sasdi, der zuständige Teilprojektleiter bei der Stiftung Pestalozzianum. «Sie ist einzigartig und zeugt von einem wichtigen Stück Schweizer Schulgeschichte.»