«Wir stärken Menschen dort, wo sie besser sind als Maschinen»

Andreas Bischof leitet die Berufsbildung beim Technologiekonzern Bühler, der zurzeit 600 Lernende ausbildet. Zwischenmenschliche Kompetenzen sind für ihn bei Lernenden wichtiger als Noten. Dies gilt insbesondere dort, wo immer mehr Arbeitsschritte automatisiert werden.

«Lernende mit einer schwierigen schulischen Vergangenheit können sich zu sehr guten Fachkräften entwickeln.» Andreas Bischof, Leiter Berufsbildung, am Hauptsitz der Bühler AG in Hinwil.

Akzente: Technische Berufe verändern sich durch die Digitalisierung und Automatisierung rasant: Wie kann die Berufsbildung dieser Entwicklung gerecht werden?
Bischof: Es ist wichtig, dass Lernende in technischen Berufen nicht in ihrem Berufsfeld gefangen bleiben. Deshalb bewegen wir uns weg vom Spezialistentum und fördern Allrounderfähigkeiten, die die Arbeitsmarktfähigkeit um ein X-faches erhöhen. Ein Automatiklernender geht bei uns nach fünf Monaten Grundausbildung je zwei Monate in die Konstruktion, in die Mechanik und in den Anlagebau. Zudem bieten wir einem Teil der Lernenden eine Projektmanagementausbildung an. Auch Führungsqualitäten und Kompetenzen im Bereich der Kommunikation werden in Zukunft wichtiger. Eine weitere wichtige Komponente ist die internationale Mobilität. Etwa 20 Lernende pro Jahr können bei uns bis zu einem halben Jahr an einem Standort im Ausland arbeiten.

Sie beschreiben im Grunde eine Bewegung von den sogenannten Hard Skills hin zu Soft Skills wie vernetztem Denken und anderen überfachlichen Kompetenzen.
Genau. Wir nehmen die Digitalisierung bewusst auf und stärken Menschen dort, wo sie nicht durch Maschinen ersetzt werden können oder besser sind als diese: auf der zwischenmenschlichen Ebene und im Bereich der Kommunikation. Deshalb achten wir bei der Auswahl der Lernenden vor allem auf die menschliche Ebene und prüfen, ob Motivation, Teamfähigkeit und Reife stimmen. Aus diesem Grund möchten wir im Vorfeld beispielsweise nichts über unsere Schnupperlehrlinge wissen.

Was heisst das?
Bei uns können alle, die Interesse haben, eine Schnupperlehre absolvieren. Wir schauen ihre Zeugnisse vorher nicht an und wissen also nicht, ob die Jugendlichen aus der Sekundarschule oder einer Kleinklasse kommen. Durch diese Art der Selektion gelangen wir jedes Jahr an sehr interessante Bewerber, denen in einer Berufsberatung aufgrund ihrer schulischen Leistung garantiert von der entsprechenden Lehre abgeraten würde. Fehlen nach der Selektion noch wichtige sprachliche oder mathematische Kompetenzen, bauen wir das vor Beginn der Lehre gemeinsam mit der Sekundarschullehrperson auf.

Werden Noten bei der Selektion also überhaupt nicht berücksichtigt?
Wir fokussieren auf Talent, Potenzial und den Willen und machen damit in der Regel sehr gute Erfahrungen. Lernende mit einer schwierigen schulischen Vorgeschichte können sich zu sehr guten Fachkräften und dankbaren Mitarbeitenden entwickeln, wenn man ihnen vorurteilslos begegnet. Einer unserer Lernenden kommt zum Beispiel aus einem RAV-Programm und er erbringt tolle Leistungen. Diese Form der Selektion ist mit einem riesigen Aufwand verbunden, weil wir für 75 Lehrstellen rund 400 Schnupperlernende einladen. Doch so haben wir auch bei geburtenschwachen Jahrgängen keine Mühe, gute Leute zu rekrutieren.

Welche Anforderungen werden an die Lernenden gestellt? Sind diese im Vergleich zu früher gestiegen?
Die Anforderungen sind nicht gestiegen, doch sie haben sich verlagert. Aufgrund grosser zur Verfügung stehender Datenmengen wird das Textverständnis in vielen Berufen wichtiger, insbesondere das Priorisieren und die Reduktion von Informationen auf das Wesentliche. Mir fällt auf, dass Lernende von heute oft sehr professionell auftreten und mit hohem Selbstbewusstsein präsentieren können. Den Jugendlichen ist auch hoch anzurechnen, dass sie ihr Wissen multiplizieren. Junge teilen, «Sharen» liegt ihnen im Blut. Ein solches Denken in Netzwerken ist ein Riesenvorteil, da können wir viel von ihnen lernen.

Die Leistungen von Lernenden hängen auch von den Kompetenzen der Berufsbildenden im Betrieb ab. Was müssen Ausbildner und Ausbildnerinnen mitbringen?
Die Persönlichkeit ist absolut zentral. Ein guter Berufsbildner muss mit sich selbst im Reinen sein, Freude an der Arbeit haben und darf keine Vorurteile haben gegenüber anderen Denkmustern und Kulturen. Wichtig ist auch, dass Ausbildungsverantwortliche ein gutes Bild von der Jugend haben und Potenziale erkennen, die sich nicht in Noten abbilden. Um das Selbstvertrauen der Jugendlichen zu stärken, ist eine Orientierung an Erfolgen nötig. Doch man muss auch hart intervenieren können und dabei gradlinig, aber nicht nachtragend sein.

Bühler bietet Lernenden die Möglichkeit eines halbjährigen Aufenthalts an Standorten im Ausland. Welche Überlegungen führten zu diesem Angebot?
Wir sind für unsere internationalen Standorte auf gute Leute angewiesen, die den Schritt ins Ausland wagen. Gestartet haben wir 2008 mit einem zweimonatigen Aufenthalt in China um die Sommerferienzeit herum. Aufgrund dieser positiven Erfahrung entwickelten wir anschliessend für längere Auslandeinsätze mit der Berufsschule Uzwil und der Pädagogischen Hochschule St. Gallen eine Art digitales Klassenzimmer. Heute werden Lernende in China und in Südafrika live zum regulären Unterricht in Uzwil zugeschaltet. Das ist sinnvoller als Berufslehrpersonen für einen Blockunterricht in das jeweilige Land auszufliegen, weil so die soziale Nähe zur Klasse bestehen bleibt.

Werden auch Lernende vor Ort ausgebildet?
Wir tun dies an verschiedenen Standorten, wobei sich unser Konzept der dualen Lehre nicht so einfach auf andere Länder übertragen lässt. Es braucht vielmehr massgeschneiderte Designs, welche die lokalen Bedingungen berücksichtigen. Dafür müssen die Bedürfnisse auf diesen Arbeitsmärkten und die Anschlussmöglichkeiten geklärt werden. Im amerikanischen Minneapolis lancierten wir zum Beispiel eine dreijährige Berufsausbildung, weil sich im Bundesstaat Minnesota eine Pensionierungswelle in technischen Berufen und damit ein riesiger Fachkräftemangel abzeichnete. Solche Ausbildungen brauchen eine staatliche Anerkennung als Garantie für die Anschlussfähigkeit und Mobilität im Arbeitsmarkt, alles andere wäre total egoistisch.

Was sind Hürden einer solchen Ausbildungsentwicklung im Ausland?
Das Konzept Berufsausbildung stösst vielerorts auf Ablehnung. Als unser Ausbildner an lokalen Colleges in Minneapolis das Konzept der Berufsbildung vorstellte, traute man ihm erst einmal nicht. Eine Ausbildung, für die man nicht bezahlt, sondern sogar noch Geld erhält? Das kann nicht sauber sein! Die Überzeugungsarbeit bei Eltern und Jugendlichen war am Anfang wirklich hart. Jetzt, da wir 18 Lernende aus drei Jahrgängen haben, ist es einfach. Bei einem Open House, zu dem wir an einer Lehrstelle interessierte Jugendliche und ihre Eltern sowie Vertreter des Arbeitsdepartements einladen, können wir die Lernenden erzählen lassen. In anderen Ländern müssen wir die Berufsbildung in ganz kleinen Schritten einführen. In China zum Beispiel investiert man vielleicht zehn Tage in eine Ausbildung, also bieten wir das an.

Zahlen sich die internationalen Bildungsinvestitionen für das Unternehmen aus?
Erst einmal erzeugt diese internationale Ausrichtung einen grossen Werbeeffekt. Wir erhalten Bewerbungen von Personen mit Migrationshintergrund, für die ein Einsatz im Herkunftsland interessant ist. Soeben ging sogar ein Lehrvertrag nach Namibia an einen Jugendlichen mit deutschem Hintergrund, der seine Lehre in der Schweiz absolvieren wird. Das grosse Interesse an unserem Modell und die Anerkennung, die wir dafür erhalten, fördern auch den Stolz bei den Lernenden und in unserem Berufsbildungsteam. Für uns zahlt sich zudem die Zeit nach Abschluss der Lehre aus. Es ist kostengünstiger, Lernende für unsere internationalen Standorte auszubilden, als entsprechend ausgebildete Personen zu rekrutieren.

Besteht nicht die Gefahr, dass Lernende, die internationale Luft geschnuppert haben, nach dem Abschluss ausserhalb des Lehrbetriebs eine Stelle suchen?
Das ist ein wichtiges Thema. Wir haben aus diesem Grund schon einige sehr gute Lehrabgänger verloren. Deshalb setzen wir einen Schwerpunkt im Nachwuchsmanagement mit einer Person, welche sich ab der zweiten Lehrhälfte gezielt um die individuelle Karriereplanung der Lernenden kümmert. Wir müssen den Lernenden attraktive Möglichkeiten anbieten und sie aktiv begleiten, um sie auch nach der Lehre an das Unternehmen zu binden.

Ãœber Andreas Bischof

Die Faszination für die Ausbildung junger Talente zeigte sich bei Andreas Bischof früh. Schon wenige Jahre nach der Lehre als Maschinenzeichner trat er eine Stelle als Berufskundelehrer an der Berufsschule Arbon an, wo er fast 20 Jahre neben der Arbeit in Entwicklungsabteilungen verschiedener Unternehmen unterrichtete. Als Wasserballspieler und -trainer sammelte er zudem in der Freizeit wichtige Führungserfahrungen. 2009 übernahm Bischof die Leitung der Berufsbildung der Firma Bühler AG, einem weltweit tätigen Technologieunternehmen mit Hauptsitz in Uzwil.

Der 52-Jährige lebt in Horn am Bodensee und geniesst als Vater von zwei erwachsenen Kindern Wandern, Skifahren und Schwimmen. Als weitere Leidenschaft bezeichnet er einen mit seinem Bruder bewirtschafteten Rebberg. Wie im Berufsleben beobachtet er dort mit Freude, wie sich die Arbeit von heute auf die Qualität von morgen auswirkt.