Ob ruhige oder raue See: Der Schulweg der 15-jährigen Jessica Hardegger aus Quinten-Au führt täglich mit dem Kursschiff quer über den Walensee. Eine wunderschöne, aber auch eine mit einem äusserst straffen Zeitplan bemessene Reise.
Es herrscht eine idyllische Ruhe an diesem Donnerstagmittag an der Schiffsanlegestelle Murg West am südlichen Ufer des Walensees. Ein kleines Bötchen tuckert gemütlich vorbei. Auch auf der «Alvier» – dem Kursschiff zwischen Murg, Au und Quinten – geht es entspannt zu und her. Während der Bootsführer die letz-ten Vorbereitungen trifft, warten die Passagiere – ein Pärchen, eine Frau sowie zwei Mädchen – auf die Überfahrt nach Au respektive Quinten. Der Motor startet. Alles scheint bereit. Doch plötzlich, auf den allerletzten Drücker sprintet noch ein weiteres Mädchen auf das Schiff. Es ist die 15-jährige Jessica Hardegger, die sich gerade auf dem mittäglichen Nachhauseweg von der Oberstufenschule im anliegenden Dorf Unterterzen nach Au befindet. Für alle Anwesenden ein bekanntes Szenario. Denn Jessicas Schulweg ist zeitlich sehr eng bemessen.
«Hallo, ich bin Jessica», sagt die Oberstufenschülerin und setzt sich neben die beiden anderen Mädchen. Wie sich herausstellt, sind dies ihre Schwestern Janine und Anja. Auch deren Schulweg führt über den Seeweg. Da sie jedoch in anderen Dörfern zur Schule gehen, läuft für sie das Ganze zeitlich ein wenig entspannter ab als für ihre grosse Schwester.
Sprinteinlagen für den Sportmuffel
An einem gewöhnlichen Tag mache sie viermal diesen Weg, erklärt Jessica während der rund zehnminütigen Überfahrt. Inklusive den jeweiligen Sprinteinlagen zwischen Schiff und Schulbus respektive Schulbus und Schiff. «Und das als Sportmuffel, wie ich es einer bin», sagt Jessica lachend. Doch das sei für sie Alltag und störe sie überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Ihr Schulweg habe nämlich durchaus auch seine Vorteile. «Komme ich aufgrund von stürmischer See zu spät in die Schule, drücken die Lehrer meist ein Auge zu», erklärt sie mit einem vielsagenden Schmunzeln. Und falls die Witterungsverhältnisse eine Überfahrt einmal tatsächlich nicht zulassen würden, hätte sie automatisch schulfrei. Doch das sei in all den Jahren vielleicht zwei oder drei Mal vorgekommen. Es ist auch nicht so, dass Jessica nicht gerne zur Schule ginge und daher ständig auf möglichst raue See hofft. Ihr gefalle es ganz gut, sagt sie. Besonders Fächer wie Bildnerisches Gestalten oder Hauswirtschaftslehre würden ihr Freude bereiten.
Mittlerweile ist die «Alvier» an der Anlegestelle Au angekommen. Die drei Mädchen steigen aus und nehmen die letzte kurze Strecke bis nach Hause in Angriff. Für sie ist das hier Alltag. Für Besucher hingegen wirkt der Ort wie ein kleines Fleckchen Paradies auf Erden. Keine Verkehrsampeln, keine Strasse und erst recht keine Autos. Insgesamt leben hier nur etwa 40 Menschen. Der kleine Wanderweg führt vorbei an schmucken Gärtchen und wundervollen Aussichtspunkten. Dann sind Jessica und ihre Schwestern zuhause angekommen. Gemeinsam mit ihrer Mutter Susanne und ihrem Vater Urs Hardegger, der Grossmutter sowie zahlreichen Tieren wohnen sie auf einem Hof direkt am Fusse der Churfirsten.
Mutter Susanne wartet bereits auf ihre drei Mädchen. Das Essen steht auf dem Tisch. Es gibt Spaghetti mit Tomatensauce. Nach einem kurzen Austausch über das Geschehen des Schulvormittags und einer klaren Ansage von Jessica, dass sie das mit dem «Unterschied zwischen Stromstärke und Stromspannung» wohl nie kapieren werde, bereiten Jessica und Janine schon wieder ihre Schulsachen für den Nachmittag vor.
«Für uns war es immer wichtig, dass unsere Kinder über die Mittagszeit nach Hause kommen können», erklärt Susanne Hardegger. Auch wenn das natürlich mit Mehraufwand verbunden sei. Denn man habe im Vorfeld mit den Verantwortlichen vom Bootsbetrieb sowie von der Schule zusammensitzen und die Situation erklären müssen. Auch müsse sie ihre Kinder jeweils überall abmelden, falls jemand einmal krank oder anderweitig verhindert sei. Doch das sei alles machbar und die Mühe auf jeden Fall wert.
Dem stimmt auch Heinz Zeller, Schulleiter der Gemeinde Quarten, zu. «Man hat sich bemüht, den gesamten Schulbusfahrplan auf die Kursschiffe abzustimmen, damit es den Schülerinnen und Schülern von Quinten-Au möglich ist, über Mittag nach Hause zu gehen», erklärt er. Das alles habe sich mittlerweile sehr gut eingespielt und funktioniere bestens.
Ein kurzer Nachmittag
Kurz vor 13 Uhr ist die knapp 40-minütige Mittagspause von Jessica vorbei. Ihr gefalle die Ruhe hier ganz gut, sagt sie während der kurzen Wartezeit auf das Kursschiff. Mit dieser Ruhe ist es dann allerdings bald vorbei. Denn unmittelbar nach der Schiffsüberfahrt wird erneut zum kurzen Sprint angesetzt, damit der Schulbus nicht zu lange warten muss.
Die Stimmung im Bus ist ausgelassen. Das nahende Wochenende scheint förmlich spürbar. Nach rund fünfminütiger Fahrt sind Jessica und die anderen Kinder beim Oberstufenschulhaus in Unterterzen angekommen. Heute gibt es einen relativ kurzweiligen Nachmittag. Auf dem Stundenplan steht bloss eine Lektion Musik. «Danach geht es schon wieder heimwärts», sagt Jessica und zeigt mit dem Finger über den See, wo man in der Ferne auf der anderen Uferseite das kleine Au und sogar die beinahe leuchtend-orangen Dachziegel von Jessicas Zuhause erkennt.