
Christine Bieri Buschor – Seitenblick
Auch das Glück kommt heute digital daher: Zum Chinesischen Neujahr hat mir Qingyang, meine ehemalige Mitbewohnerin und Austauschstudentin der PH Zürich aus Guangzhou, einen sogenannten «hongbao» geschickt. Das in China traditionelle Geschenk bringt mir Glück für das Jahr des Feuer-Hahns 2017. Selbstverständlich erreicht mich das Glück per WeChat.
WeChat ist die chinesische Variante von WhatsApp. Damit lassen sich alltägliche Dinge leicht bewältigen; zum Beispiel Fotos und Glücksbringer versenden, Videotelefonate durchführen oder Zahlungsverkehr und Shopping erledigen. Rund 762 Millionen Chinesinnen und Chinesen nutzen heute WeChat, davon mindestens 100 Millionen ausserhalb Chinas. In der Geschäftswelt ist die traditionelle Visitenkarte zwar immer noch wichtig. Im informellen und privaten Bereich schliessen Chinesinnen und Chinesen heute aber vor allem Bekanntschaft über den QR-Code von WeChat. Während meiner Aufenthalte in China habe ich stapelweise Visitenkarten ausgetauscht und WeChat-Bekanntschaften geschlossen. «Can we connect via WeChat QR-Code?» war jeweils einer der ersten Sätze im Gespräch.
Selbstverständlich sind auch bei uns Smartphones längst zu einem Bestandteil unseres externalen Gedächtnisses geworden. Das Auswendiglernen von Adressen, Telefonnummern und Einkaufslisten ist obsolet geworden. In der Schule vollbringen Lehrerinnen und Lehrer Schwerstarbeit, wenn sie ihre Schülerinnen und Schüler dazu motivieren, Vokabeln, Lieder oder sogar Gedichte auswendig zu lernen. Meine Freundin Patricia unterrichtet eine Kleinklasse auf der Sekundarstufe I. Sie erzählte mir kürzlich, es gehöre zu ihren Stärken, auch schwächere Lernende zu motivieren. Es sei ihr aber trotz vielfacher Bemühungen einfach nicht gelungen, ihre Schülerinnen und Schüler davon zu überzeugen, dass es wichtig sei, jemandem den Weg von A nach B in englischer Sprache erklären zu können. «Das macht doch keinen Sinn, es gibt doch Google Maps!», meinten sie dazu.
Das Beispiel zeigt: Sich einen Weg vorzustellen und ihn in einer Fremdsprache einer Person zu erklären, ist anstrengend – und altmodisch. Aber es fördert das räumliche Vorstellungsvermögen. Und das Memorieren von Vokabeln unterstützt das Arbeitsgedächtnis. Räumliches Vorstellungsvermögen und Arbeitsgedächtnis gehören zu den zentralen Merkmalen der kognitiven Leistungsfähigkeit. Wer sich Dinge merken kann, leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur eigenen Lernfähigkeit. Das Outsourcen dieser Funktionen kann sich längerfristig durchaus negativ auf unser Denken und Lernen auswirken. Deshalb ist dem Auswendiglernen auch in der Ausbildung der PH Zürich eine wichtige Bedeutung beizumessen.
Ich persönlich versuche in altmodischer Manier weiterhin, eine Unmenge chinesischer Zeichen zu memorieren und neue dazuzulernen. Um vorzusorgen: Schliesslich möchte ich auch dann noch eine gute Beiz in Zürich finden, wenn mein Smartphone in eine «Dole» fällt und ich ohne auskommen muss.