«Die Zukunft von Geschichte in der Schule ist offen»

Sabina Brändli, Dozentin für Geschichtsdidaktik an der PH Zürich, leitete ein mehrjähriges Forschungsprojekt, das den Wandel von Geschichtsunterricht und politischer Bildung in Schweizer Volksschulen zwischen 1830 und 1990 untersuchte. Im Interview gibt sie Auskunft über die bewegte Geschichte des Geschichtsunterrichts.

Sabina Brändli, Leiterin des Forschungsprojekts und Dozentin für Geschichtsdidaktik an der PH Zürich. Foto: Christian Wagner

Akzente: Ihr habt vier Jahre intensiv geforscht. Hat sich ausser 200 Jahren mehr Lernstoff viel verändert im Geschichtsunterricht seit 1830?
Brändli: In unserer Untersuchung konnten wir feststellen, dass sich Geschichtsunterricht in praktisch all seinen Facetten gewandelt hat. Geschichte nimmt eine besondere Rolle im Fächerkanon ein. Geschichtsunterricht vermittelt keine bestimmte Kulturtechnik wie Lesen, Schreiben oder Rechnen, sondern ermöglicht über die Auseinandersetzung mit dem Denken und Handeln von Menschen aus früheren Zeiten die Gegenwart zu verstehen und sich in ihr zu verorten. Weil sich die Gegenwart selbst ständig verändert und neu interpretiert wird und andere Herausforderungen stellt, wandelt sich auch der gesellschaftliche Anspruch an den Geschichtsunterricht laufend. Wenn man bedenkt, was sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten alles verändert hat, dann wird verständlich, dass auch die Geschichte des Geschichtsunterrichts eine sehr bewegte war.

Lassen sich in diesen vielfältigen Veränderungen bestimmte Entwicklungsmuster erkennen?
Die ganz groben Linien lassen sich in etwa so nachzeichnen: Vom normativen Pauk- und Gesinnungsunterricht hin zum kritisch-reflexiven Unterricht. Von der Vermittlung populärer, identitätsstiftender Narrative hin zu wissenschaftsorientierten Inhalten und Methoden. Oder: vom Ziel nationaler Gemeinschaftsbildung hin zur Erziehung zu kritischen, mündigen Staatsbürgerinnen und -bürgern in einer pluralistischen Gesellschaft. Aber in all diesen Linien konnten wir in unserer Forschung auch immer wieder Diskontinuitäten und kantonale Unterschiede nachweisen.

Auf welche kantonalen Unterschiede seid ihr gestossen in eurer Untersuchung?
Konfessionelle und ideologisch-politische Unterschiede zwischen den Kantonen fanden lange Zeit auch im Geschichtsunterricht ihren Ausdruck. Dass in Schulen vermittelte Geschichte bei Adam und Eva begann oder Heilige im selben Status wie Napoleon behandelte, war in katholischen Kantonen im 19. Jh. nichts Aussergewöhnliches. Zudem wurden in jener Zeit historische Ereignisse je nach dominanter konfessioneller oder ideologischer Orientierung eines Kantons sehr unterschiedlich bewertet. Im Geschichtsunterricht in Zürich beispielsweise wurde Zwingli als Befreier und der Ausgang des Sonderbundskriegs 1847 als Sieg gefeiert, während Geschichtslehrpersonen in katholisch-konservativen Kantonen ihren Schützlingen das Gegenteil vermittelten. Diese Beispiele zeigen auch, wie Geschichte lange Zeit als Fach zur Vermittlung der erwünschten Gesinnung verstanden wurde.

Dann förderte Geschichtsunterricht ab Ende des 19. Jh. keine bestimmte Gesinnung mehr?
Doch. Gesinnungsunterricht entsprach erstaunlicherweise bis in die frühen 1970er-Jahre einer breit geteilten gesellschaftlichen Forderung. Mit der zunehmenden politischen Integration der Katholisch-Konservativen Ende des 19. Jh. verlor die benannte Konfliktlinie aber an Bedeutung. Der Schweizer Bundesstaat war damals noch jung, in Europa hielt der Nationalismus Einzug und bald tobten zwei  Weltkriege. Der gesellschaftliche Konsens fiel deshalb auf Gesinnungsinhalte, die den Verhältnissen angepasster erschienen – wie etwa eine starke nationale Identifikation, Wehrhaftigkeit oder Staatstreue. Die Beförderung jener Gesinnung erforderte positive, identitätsfördernde Narrative und einen entsprechenden Geschichtsunterricht zur Vermittlung.

Welche Ziele verfolgt heutiger Geschichtsunterricht?
Moderner Geschichtsunterricht soll junge Menschen befähigen, durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegenwärtige Ereignisse zu verstehen und einzuordnen und sich qualifizierte Meinungen zu bilden. Für die Herausbildung solcher Kompetenzen eignet sich der Geschichtsunterricht hervorragend und ich erachte sie als zentral, damit Menschen mündig und aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben können.
Das sind hohe Ansprüche, wenn man bedenkt, dass zunehmend weniger Lektionen für den Geschichtsunterricht bereitstehen.
Sich vertieft in vergangene Ereignisse und Verhältnisse einzudenken und sie nach ihrer Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft zu befragen, ist mit hohem Zeitaufwand verbunden. Der Aufbau der anspruchsvollen Kompetenzen, die moderner Geschichtsunterricht fördern soll, braucht also Zeit. Mit fachdidaktischen Weiterentwicklungen, neuen Lehrmitteln und einer exemplarischen Auswahl und damit Reduktion von Lerninhalten wird versucht, die hohen Anforderungen trotz schwindenden Zeitressourcen dennoch zu erfüllen. Dieses Vorgehen kann bei gleichbleibenden Ansprüchen jedoch nicht ewig weitergeführt werden. Die Zukunft von Geschichte in der Schule ist offen. Klar ist hingegen, dass weiterhin unsere Gesellschaft bestimmt, welche Bedeutung und welche Zielsetzung dem Schulfach zugeschrieben werden.

Weitere Informationen zum SNF-finanzierten Projekt, an dem eine Doktorandin und drei weitere Dozierende der PH Zürich mitwirkten: tiny.phzh.ch/forschung_gu