Von einem umgebauten Maiensäss am äussersten Waldrand querfeldein den Berg hinunter ins Dorf. Das ist der tägliche Schulweg der elfjährigen Kim aus Lenzerheide in Graubünden. Im Sommer geht die aufgeweckte Fünftklässlerin die Reise zu Fuss an, in den Wintermonaten je nachdem mit den Skis. Spass macht ihr beides.
«Es wird Zeit Kim, du musst los.» Die Mutter der elfjährigen Kim Mirer ist es gewohnt, dass sie am Morgen jeweils ein bisschen nachhelfen muss. «Bei Kim wird es morgens zeitlich meistens etwas eng», sagt Petra Mirer und lacht. Kim selber sieht das relativ gelassen. Sie nimmt noch einen letzten Schluck Tee, öffnet ein Türchen des Haribo-Adventskalenders und verabschiedet sich von ihrer Mutter – beinahe ohne den Schulrucksack mitzunehmen. Im letzten Augenblick denkt sie gerade noch daran.
«Ja, das mit dem Vergessen ist so eine Sache bei mir», sagt die quirlige Fünftklässlerin beim Verlassen des Hauses – einem umgebauten Maiensäss am Waldrand oberhalb von Lenzerheide. Das sei wohl schon immer so gewesen. Nun denn, heute habe sie alles dabei, sagt sie.
Kim’s Schulweg führt querfeldein über eine grosse Wiese den Hang hinunter in Richtung Dorf und Schule. Knappe 20 Minuten brauche sie, wenn sie es gemütlich nehme. Doch vielfach renne sie – sowohl den Berg hinunter als auch den Berg wieder hinauf. Es ist tatsächlich nicht ganz einfach, mit der Elfjährigen Schritt zu halten. «Achtung, da ist Sumpf, da kann man nicht durchlaufen», warnt Kim den unwissenden Gast gerade noch rechtzeitig. Keine Frage, das Mädchen kennt ihren Schulweg mitten durch die Natur wie die berühmte Westentasche. «Das da ist mein Lieblingsbaum, aber fragen Sie mich nicht weshalb», sagt Kim lachend und zeigt auf einen einzelnen Baum, der auf einer kleinen Anhöhe thront.
Ja, ihr gefalle ihr «Wanderweg» in die Schule sehr gut, sagt Kim ein paar Höhenmeter weiter unten. Trotzdem: Hin und wieder wünsche sie sich schon auch einen ganz normalen Schulweg. So einen wie ihn ihre Schulkollegin habe, die sozusagen nur über die Strasse müsse und dann schon vor der Schule stehe. Vor allem im Frühling, wenn der Schnee so matschig werde, sei es doch etwas anstrengend, von der Schule nach Hause zu laufen. Besonders dann, wenn man zuvor gerade noch Turnunterricht gehabt habe. Ansonsten aber stört Kim Schnee auf ihrem Schulweg nicht. Ganz im Gegenteil. Denn im Winter kann sie, je nach Schneeverhältnissen, mit ihren Skiern in die Schule hinunter brettern und danach gemütlich mit dem Schlepplift wieder hochfahren. «Fast bis vor die Haustüre», wie sie lachend sagt. Das sei schon toll, und hie und da fahre sie auch noch ein, zwei Mal die Piste rauf und runter, bevor sie dann endgültig nach Hause gehe.
Bewegung als  Teil des Alltags
Nein, bei ihren Schulkameradinnen und -kameraden sei ihr Schulweg eigentlich kein besonderes Thema, sagt Kim, als sie gerade ein Foto von der Schneekanone macht, die neben dem Lifthäuschen mit voller Kraft Mutter Natur etwas nachhilft. Bei der Schule selbst sind die verschiedenen Wege der Kinder von Familien, die wie Kim etwas ausserhalb wohnen, allerdings sehr wohl ein Thema, wie der Schulleiter Stefan Langenegger erklärt. «Sowohl im Schulrat als auch in der Schulleitung sind wir diesbezüglich immer bemüht, für alle Beteiligten gute Lösungen zu finden», sagt er. Dass im Winter jeweils das eine oder andere Paar Ski oder das eine oder andere Snowboard vor der Schule stehe, finde er persönlich etwas Tolles. «Durch unsere Lage direkt in einem Skigebiet gehört diese Art von Bewegung für uns zum Alltag», erklärt Langenegger. Und sowieso sei es gut und sinnvoll, dass sich so die Kinder bewegen und sportlich betätigen würden. Dem stimmt auch Kims Mutter zu. «Nicht zuletzt durch ihren Schulweg ist Kim körperlich topfit, genauso wie ihre beiden grösseren Geschwister», sagt sie. Diese tägliche Bewegung tue gut und härte ein Stück weit auch ab. Und die Verbundenheit zur Natur werde dadurch auch nochmals gestärkt. Deshalb sei es für sie und ihren Mann nie ein Thema gewesen, die Kinder in die Schule zu fahren. «Kim läuft diesen Weg seit dem Kindergarten und es hat ihr ganz bestimmt nicht geschadet, ganz im Gegenteil.»
Vorbei an Rihanna und Leroy Jethro Gibbs
Mittlerweile ist Kim unten im Dorf angekommen. Von Müdigkeitserscheinungen keine Spur. Schliesslich ist sie ihren Schulweg dieses Mal aus Rücksicht auf den unkundigen Begleiter – zumindest für ihre Verhältnisse – auch ganz besonders gemütlich angegangen. Es geht noch durch eine Unterführung, deren Wände zahlreiche Graffitis der – wie Kim sie schmunzelnd nennt – «krassen Oberstüfler» zieren. Dann ist es auch schon da, das Schulhaus von Lenzerheide. Kims Schulfreundin wartet bereits auf dem Pausenplatz. Plötzlich merkt Kim, dass sie heute ja Schwimmunterricht hat, ihre Schwimmsachen aber noch zuhause sind. Da ist es wieder, das mit dem Vergessen. Aus der Ruhe lässt sie sich dadurch jedoch nicht bringen. «Dann renn ich in der Pause halt nochmals rasch den Berg hinauf und hole meine Schwimmausrüstung zuhause.» Oder vielleicht auch nicht. Denn schliesslich könne man die Schwimmsachen ja auch bei der Schule mieten. Sagt es, lacht herzlich, verabschiedet sich und macht sich mit ihrer Freundin auf ins Klassenzimmer.