2 × 3 macht 4

Karin Zopfi Bernasconi – Seitenblick

Karin Zopfi Bernasconi – Seitenblick

Es gibt Modellvorstellungen, die haften bleiben wie Honig auf dem Sonntagszopf. So erinnere ich mich bis heute an die Ausführungen eines Professors zur Quality Time. Für die Qualität der familiären Beziehungen sei nicht die Quantität der zusammen verbrachten Zeit der entscheidende Faktor. Bei einer hohen Qualität reiche auch wenig Zeit aus. In unseren jungen Ohren tönte dies wie ein Versprechen: Arbeits- und Familienleben sind problemlos vereinbar! Ja, mit etwas pädagogischem Geschick muss es sogar ein Leichtes sein. Papierschöpfen, Origami falten und Guetzli backen werden neben dem Daily Business locker Platz haben.
Mit einem gewissen Mass an Eigenerfahrung begann die Glaubhaftigkeit dieses Konzepts zu bröckeln. Quality Time kann vielleicht für einen selber auf  Knopfdruck erzeugt werden, beispielsweise mit dem berühmten Hobby, welches flowartige Zustände auslöst. Für Paarbeziehungen mag diese Idealvorstellung auch ihre Berechtigung haben. In einem komplexen, dynamischen familiären Gefüge, in welchem ein Teil der Angehörigen noch über keine ausgereifte Emotions- wie Impulskontrolle verfügt: undenkbar! Alltag oder einfach gemeinsam verbrachte Zeit beinhaltet vor allem mit kleinen Kindern das schnelle Reagieren auf etwelche Situationen, das Geniessen der heiteren, nahen Momente und das Vergessen der unangenehmen Ereignisse. Vieles, mitunter grossartige Meilensteine geschehen aus dem Moment heraus und halten sich an keinen Terminkalender. Entweder ist man zugegen oder eben nicht.
Auch wenn mit etwas älteren Kindern die Planbarkeit von Quality Time einfacher wird, braucht es als Basis für gut funktionierende Beziehungen ein gewisses Mass an Quantity Time. Die beste Voraussetzung dafür ist unverplante, stressfreie Zeit, in welcher Eltern die Ruhe haben, sich im Hier und Jetzt auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einzulassen. Manchmal bedeutet dies, genau zuhören zu können und die eigene To-do-Liste komplett zu verbannen. In anderen Momenten empfiehlt es sich, die Demut einer wenig beachteten Topfpflanze aufzubringen und sich darüber zu freuen, dass die eigene Präsenz kaum gefragt ist.Wenn man bedenkt, dass diese konzeptartige Idealvorstellung aus den 70er Jahren stammt, ist vielleicht etwas Nachsicht geboten. Der Begriff Quality Time wurde vor allem im amerikanischen Kontext im Zusammenhang mit der Vereinbarkeitsfrage von Familie und Beruf ins Feld geführt. So gesehen liegt dessen Qualität in der damit ausgelösten gesellschaftlichen Debatte und der darauf erfolgten Aufweichung fixer Rollenmuster.
Aber eben, es handelt sich um eine einfache, idealtypische Vorstellung, die die Vielschichtigkeit familiärer Beziehungen mitnichten einfängt. Wer sich im Glauben wiegt, die eigene, häufig arbeitsbedingte Absenz mit geplanten Verabreichungen von Quality Time einfach wettmachen zu können, läuft Gefahr, dem Pippi-Langstrumpf-Syndrom («Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt») zu erliegen. Zu akzeptieren, dass Karriere und familiäre Beziehungen nicht gleichzeitig in perfektem Masse vorangetrieben werden können, schadet bestimmt nicht.

Karin Zopfi Bernasconi ist Dozentin für Pädagogische Psychologie an der PH Zürich.