Weg von Technik und Nachahmung hin zur Gestaltung

In den Fächern im Bereich der Künste stehen heute nicht mehr die Nachahmung vorgegebener Beispiele oder die technischen Fertigkeiten im Zentrum,  sondern eigenständige Gestaltungsprozesse. Und: Mit der Kompetenzorientierung werden Musik-, Zeichen-   und Handarbeitsunterricht nicht nur anspruchsvoller und interessanter.  Mit ihr zeigen sich auch die Gemeinsamkeiten der Fächer.

Eine Banane aus Zement, eine Zahnpastatube, aus deren Öffnung ein Lichtstrahl dringt, und ein Riesenpompom aus Recyclingmaterial, das den Flur eines Gebäudes füllt. Diese ungewöhnlichen Bilder hat die PH Zürich auf ihrem Instagram-Account veröffentlicht. Es sind Eindrücke aus dem Unterrichtsalltag im Bereich Kunst und Design, Resultate von bildnerischen Gestaltungsprozessen, die Studierende in ihrer Ausbildung durchlaufen, um ihre Schülerinnen und Schüler später zum eigenständigen kreativen Gestalten anleiten zu können. Den Dozierenden des Bereichs Kunst und Design ist es wichtig, dass solche Bilder an die Öffentlichkeit gelangen, um ein dort vorherrschendes veraltetes Bild von gestalterischem Unterricht mit heutigen Realitäten abzugleichen. «Das Bild des Handarbeitsunterrichts, das unsere Medien und Diskussionen prägt, beruht oft auf weit zurückliegenden, persönlichen Schulerfahrungen», erklärt Monica Bazzigher-Weder, Leiterin des Bereichs Kunst und Design der Primarstufe. Ein Handarbeitsunterricht, in dem diszipliniertes Stricken, Häkeln und Nähen nach fixen Schnittmustern angesagt ist und der gestalterische Freiraum nur bis zur Auswahl von Stoff und Farben reicht, habe heute keine Daseinsberechtigung mehr. «Würde Handarbeit wirklich noch so unterrichtet, könnte das Fach abgeschafft werden», sagt auch Pia Aeppli, Verantwortliche für Kunst und Design auf der Sekundarstufe I. Ein zeitgemässer kompetenzorientierter Gestaltungsunterricht gehe längst über die Nachahmung und das Erlernen technischer Fähigkeiten hinaus. So erhält der Gestaltungsprozess gleiches Gewicht wie das Endprodukt, wobei nicht nur dem künstlerischen Ausdruck Rechnung getragen wird, sondern auch den komplexen sozialen, ökonomischen und ökologischen Zusammenhängen hinter Designprodukten und -prozessen.
Im Lehrplan 21 zeigt sich der Paradigmenwechsel weg vom Fokus auf handwerkliche Fertigkeiten hin zum Gestalten auch in neuen Bezeichnungen für die gestalterischen Fächer: Zeichnen wird zu Bildnerischem Gestalten, die beiden Bereiche des heutigen Handarbeitsunterrichts werden künftig als Textiles und Technisches Gestalten bezeichnet.

Vom Handwerk zur Gestaltung
Eine kompetenzorientierte Aufgabenstellung im Bereich Kunst und Design geht stets von einem übergeordneten Thema aus und beginnt mit einem Rechercheprozess. Stellte die Handarbeitslehrerin früher eine Tasche auf den Tisch, die alle nachmachen mussten, so stellt die Lehrperson den Schülerinnen und Schülern heute erst einmal die Frage, was sie mit einer Tasche überhaupt transportieren möchten, womit nicht nur die Gegenstände gemeint sind, die in einer Tasche oder einem Rucksack Platz finden sollen, sondern auch das Selbstbild, das man mit der eigenen Tasche befördert. So recherchieren die Schülerinnen und Schüler in diesem Fall beispielsweise, welche Taschenkategorien und -modelle es gibt, von wem diese getragen werden und ob sich dabei vielleicht Genderunterschiede zeigen. Statt das Material vorzugeben, lässt die Lehrperson die Klasse etwa an eigenen Taschen und Rucksäcken erforschen, warum bestimmte Materialien gewählt wurden, anschliessend könnten in einem Experiment verschiedene Materialproben mit Feile, Wasser und Stoppuhr auf ihre Robustheit oder  Wasserdurchlässigkeit getestet werden.
Wenn Schülerinnen und Schüler höchst individuelle Produkte herstellen und Gestaltungsentscheidungen übernehmen, die früher die Lehrperson traf, lernen sie nicht nur Materialen und Verfahren gezielt einzusetzen. Ebenso lernen sie dabei Problemlösungsstrategien zu entwickeln und in einer Welt, in der Design, Bilderwelten und die (Selbst-)Darstellung zunehmend an Bedeutung gewinnen, bewusste Entscheidungen zu treffen. «Jugendliche kennen die Kommunikationsmöglichkeiten von Bildern, Objekten und Marken und sind es sehr gewohnt, Bilder von sich zu transportieren», sagt Pia Aeppli. Die eigene Ausdrucksweise gelte es jedoch bewusst zu reflektieren, um eine selbstbewusste Haltung zu fördern. Wie man sich für eine Schnupperlehre kleiden möchte, kann somit genauso Thema im Handarbeitsunterricht sein wie die Frage, wie eine Jeans aus dem H&M nur 15 Franken kosten kann.

Lernen von Alltagsgegenständen
Zweifelsohne ist ein kompetenzorientierter Gestaltungsunterricht für die Lehrperson und die Klasse interessanter, er ist aber auch anspruchsvoller. Aeppli erzählt aus eigener Unterrichtserfahrung von Schülerinnen und Schülern, die erst nicht verstehen wollten, weshalb sie nun Heft und Etui in den Handarbeitsunterricht mitbringen und im Unterricht Notizen machen sollten. Schliesslich müsse man in diesen Lektionen doch eigentlich nicht denken?, so die Meinung der Klasse, die am herausfordernden Unterricht jedoch bald Gefallen fand. Eine ähnliche Reaktion erlebte Aeppli bei einer fachdidaktischen Einführung in den Lehrplan 21 im Bereich Gestalten, bei der eine Lehrperson fragte, ob es den Zeichenunterricht zum «Abschalten» denn nicht mehr gäbe. «Zeichnen oder Handarbeit waren auch früher nicht zur Erholung von anderen Fächern da», korrigiert Aeppli. Häufig glaubten Lehrpersonen auch, dass sie für die thematische Einbettung der Gestaltungsaufträge aufwändige Vorträge vorbereiten müssen. Dabei können Lehrpersonen über sehr einfache und naheliegende Wahrneh-mungsaufträge einen Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler herstellen. Wenn etwa die Produktionsweise der Modeindustrie thematisiert werden soll, kann schon das Untersuchen der Etiketten an der eigenen Kleidung das Bewusstsein der Kinder schärfen und das Denken in Zusammenhängen fördern.
Der Übergang zu einem kompetenzorientierten Unterricht ist in der Handarbeit auf allen Stufen noch nicht abgeschlossen. Selbst in den Kindergärten unterscheidet sich das Niveau der Gestaltungsaufträge stark. So bettet ein Teil der Lehrpersonen diese schon heute thematisch ein und richtet sie auf die Kompetenzen der Kinder aus, während andere auf Anleitungen für Deko-Objekte aus dem Internet setzen, deren oberflächliche Wirkung dem Lernauftrag sogar widerspricht. Gemäss den Leiterinnen des Bereichs Kunst und Design gelingt die Umsetzung denn auch nicht allen Abgängerinnen und Abgängern der PH Zürich. Schwierig werde es etwa dann, wenn sie am Arbeitsort auf Lehrpersonen treffen, die den Schritt von der Fertigkeitenorientierung zur Begleitung von individuellen Gestaltungsprozessen noch nicht geschafft haben. Da die Ausbildung zur Lehrperson für Handarbeit heute insbesondere auf der Primarstufe lediglich einen kleinen Anteil der gesamten Ausbildung ausmacht, während Handarbeitslehrpersonen an den früheren Lehrerseminaren drei Jahre auf ihrem Fach ausgebildet wurden, kann das Verteidigen der erlernten didaktischen Konzepte beim Berufseinstieg schwer fallen. Dass es für die Handarbeit heute keine separate Ausbildung mehr gibt, sondern diese als Wahlpflichtfach in die Ausbildung zur Primar- und Sekundarlehrperson integriert wurde, hat auch Vorteile. Wird Handarbeit nämlich durch die Klassenlehrperson unterrichtet, werden fruchtbare Verknüpfungen zu anderen Unterrichtsfächern wie Mensch und Umwelt oder Mathematik möglich.

Gemeinsame gestalterische Kompetenz
Der Handarbeitsunterricht ist nur ein Beispiel für den Paradigmenwechsel. Denn dieser findet auch im Bildnerischen Gestalten und Musikunterricht statt. Die einzelnen Fächer verbindet sehr viel, wie Mathis Kramer-Länger zeigt. «Natürlich macht es einen Unterschied, ob man Musik, ein Bild oder eine Bewegung als Produkt hat. Doch die gestalterische Kompetenz ist eigentlich in allen Fächern dieselbe: wahrnehmen und Ausdrucksformen suchen», sagt der Leiter des Bereichs Musik und Performance auf der Eingangsstufe. Im Gespräch über den Musik- und Performanceunterricht zieht er denn auch immer wieder Beispiele aus gestalterischen Fächern herbei. «Welche Fertigkeiten hat denn Joseph Beuys beherrscht?», fragt er etwa, um seine Kritik an einem stark technikorientierten Kunstunterricht zu verdeutlichen. Das Beispiel des erfolgreichen Konzeptkünstlers, der keine gängigen Gestaltungstechniken anwandte, soll zeigen, dass die Beherrschung eines bestimmten Instrumentariums nicht zentrale Bedingung für einen echten künstlerischen Ausdruck ist. «Die enge Ausrichtung der Kunstfächer auf reine Nachahmung kommt letztlich aus einem Nutzendenken heraus», sagt Kramer-Länger. Wie die Handarbeit früher Teil der Ausbildung zur perfekten Hausfrau war und das Werken dem Bild des Heimwerkers diente, hatte auch Musikunterricht weitgehend eine Disziplinierungsfunktion. So wurden in Schweizer Schulen noch bis in die 70er Jahre Lieder gesungen, die die Tugend und den Wehrwillen von heranwachsenden Männern stärken sollten. «Kunstunterricht muss aber zweckfrei sein», sagt Kramer-Länger. Die Frage, inwiefern Musikunterricht andere Fähigkeiten fördert, wird denn auch hinfällig, da Musikunterricht lediglich Selbstwirksamkeit ermöglichen und in einer Welt voller Musik urteils- und handlungsfähig machen soll.
Dass für die Kunstfächer keine internationalen Bildungsstandards wie in anderen Fächern existieren, ist daher nichts als konsequent. Gegenpositionen, die sich von Standards eine politische Aufwertung der Fächer erhofften, werden heute kaum mehr vertreten. «Es ist naiv zu glauben, dass gesetzliche Standards den Stellenwert der Kunstfächer verbessern könnten», meint Kramer-Länger. Für die Kunstfächer bergen solche Standards höchstens die Gefahr, dass sie instrumentalisiert werden, wenn sie auf ihre wirtschaftsfördernden Effekte hin vergleichbar gemacht werden. Kunstfächer mögen durch die Berufswelt, die immer mehr nach kreativen Ideen verlangt, zwar wichtiger erscheinen, ihre Legitimation ist jedoch nicht durch den Bedarf an kreativen Köpfen gegeben.

Musik erfahren
Musikunterricht dient also weder einer Disziplinierung noch dem Status. Gleichzeitig verlieren Nachahmung, Technikbeherrschung sowie das Wissen über Musik an Gewicht. «Das isolierte Wissen über Musik, Musiktheorie als Selbstzweck verliert in der Volksschule zunehmend an Bedeutung», sagt Edi Gürber, der den Bereich Musik und Performance auf der Primarstufe leitet. Das Bedürfnis, etwas über die Konstruktion von Musik zu erfahren, komme erst aus dem aktiven Musizieren heraus, so Gürber. Der Dreiklang rückt im heutigen Musikunterricht also erst in den Blick, wenn er in der Praxis angewandt wird. «Musikunterricht soll Musik erfahrbar machen», so Gürbers Erklärung. Das ausschliessliche Singen im Klassenverband bietet dazu nicht die beste Grundlage. So umfasst der Musikunterricht heute auch viel mehr als das Reproduzieren bestehender Lieder. Gürber zeichnet zur Erklärung zwei Unterrichtsszenarien, die einen kreativen Umgang mit Musik ermöglichen: Zu einem Lied, das die Lehrperson oder eine Schülerin mitbringt, versucht die Klasse gemeinsam eine Rhythmusbegleitung zu finden. Irgendwann braucht es das Lied möglicherweise gar nicht mehr und zum Rhythmus kommen Bewegungen dazu, später vielleicht Gesang. Ein zweites Szenario: Die Klasse sucht sich ein Thema aus und versucht dieses szenisch und musikalisch umzusetzen. Mit einem Smartphone werden dann kurze Filmsequenzen dieser Szenen aufgenommen, die wiederum für ein Bühnenbild verwendet werden.
Die Beispiele zeigen, dass Gesang, Instrumentalformen, Szenisches, Rhythmik und Bewegung in einem handlungsorientierten Musikunterricht fliessend ineinander übergehen und nicht voneinander getrennt gedacht werden. Ein solches Verständnis, das im Kindergarten, wo zu Liedern geklatscht, gestampft oder getanzt wird, tief verwurzelt ist, muss sich auf der Primar- und Sekundarstufe vielerorts noch etablieren. Ebenso herrschte im Musikunterricht auf diesen Stufen früher oftmals eine Beschämungskultur, in der Abweichungen von der perfekten Intonation schnell einmal den Stempel «unmusikalisch» nach sich zogen. Die Erfahrung eines von Hemmungen geprägten Musikunterrichts haben auch viele der Studierenden, die an der PH Zürich das Fach Musik wählen, in ihrer Schulzeit gemacht. «Diese Beschämung muss man ernst nehmen, weil man mit der Singstimme auch sein Innerstes preisgibt», sagt Mathis Kramer-Länger. Es gelte zwingend, von einer Beschämungskultur wegzukommen.
Der Haltung der Studierenden kommt in der Ausbildung an der PH Zürich eine grosse Bedeutung zu. Denn ob Musik, Theater und Tanz in der Schule erfahrbar werden, hängt massgebend vom Umgang und den Erfahrungen der einzelnen Lehrperson damit ab. An dieser Haltung arbeiten könne man über das eigene Tun, indem man selbst Musik und Performances mache und reflektiere, was eine Musik-, Theater- oder Tanzerfahrung in einem ausgelöst habe. «Wie bringe ich die Schülerinnen und Schüler dazu, Dinge zu wagen?», beschreibt Kramer-Länger die Herausforderung der Lehrpersonen in den Kunstfächern, die gleichzeitig auch diejenige der Dozierenden an der PH Zürich ist.
Während technische Fertigkeiten im Musikunterricht an den Schulen an Bedeutung verloren haben, bleiben sie in der Ausbildung zur Lehrperson wichtig. Im Instrumentalunterricht zur schulpraktischen Liedbegleitung bereiten sich die Studierenden darauf vor, ihre Klasse beim Singen und Musizieren auf einem Harmonieinstrument zu begleiten. Die Voraussetzungen der Studierenden sind sehr unterschiedlich. Wer als Anfänger komme, müsse viel investieren, sagt Gürber. Gerade auf der Sekundarstufe sei es wichtig, dass die Lehrperson ein bestimmtes Niveau habe, um den Jugendlichen eine groovige Begleitung zu bieten. «Eigentlich müssten alle Musiklehrpersonen auch DJs sein», fügt er hinzu und relativiert sogleich: «Oder sie setzen auf die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler.» Dies gilt nicht nur für den Musikunterricht, sondern für alle Kunstfächer. Denn wo Kunst möglich werden soll, muss auch die Lehrperson Wagnisse eingehen.