Versperrt die Nähe den Blick aufs Ganze? In seiner kontroversen Aufsatzsammlung «Distant Reading» legt der Literaturwissenschaftler Franco Moretti nahe, dass sich ein Close Reading, also das intensive Lesen nah am Text, nur dort lohne, wo man sich über den Wert der untersuchten Texte bereits einig sei. Aber wie kommt es überhaupt dazu, dass bestimmte Werke in den schmalen Kanon aufgenommen werden, während 99 Prozent der literarischen Produktion einer Epoche in Vergessenheit geraten? Analog zur Evolutionstheorie und in Anlehnung an Modelle der Netzwerktheorie sucht Moretti in gross angelegten Diskursanalysen nach entscheidenden Selektionskriterien, die das Überleben einzelner Werke und deren langfristigen Marktvorteil erklären sollen.
Am Beispiel der aufkommenden Detektivgeschichten gegen Ende des 19. Jahrhunderts und der zunehmenden Bedeutung von Indizien bei der Aufklärung von Kriminalfällen versucht Moretti die Mechanismen der Auswahl zu illustrieren. Ein ähnliches Verfahren wendet er bei der internationalen Verbreitung von Hollywood-Filmen an, um zu zeigen, wie Produkte mit bestimmten Merkmalen auf dem Markt die Oberhand gewinnen. Actionfilme landen weltweit unter den Kassenschlagern, weil ihre Geschichten unabhängig von der Sprache funktionieren. Umgekehrt haben Komödien gerade deshalb einen schweren Stand, weil Wortwitz und Humor kulturell bedingt sind und sich deshalb schlechter transportieren lassen. Der Erfolg von Kinderfilmen wiederum bleibt auf Gegenden beschränkt, wo für die Unterhaltung von Kindern mehr Geld ausgegeben wird. «Jede Gattung», folgert der Autor, «hat ihren Lieblingsraum, ein anderes Verbreitungsmuster.»
Zum Einsatz kommen bei all diesen Untersuchungen quantitative Verfahren, die an den Umgang mit Big Data erinnern. Mehr lesen sei zwar eine gute Sache, hält Moretti fest, aber keine Lösung. Als Vertreter der neuen Digital Humanities setzt er deshalb auf riesige Textmengen, die gar nicht mehr gelesen und im Detail untersucht, sondern vielmehr eingelesen und mit Hilfe statistischer und computergestützter Auswertungsmethoden bewältigt werden. Statt durch die Lupe betrachtet man den Gegenstand wie durch ein umgedrehtes Fernglas aus der Distanz, um Beziehungen in komplexen Systemen zu verstehen, grosse Entwicklungsverläufe nachzuzeichnen und das Entstehen neuer «Arten» zu erfassen.
Morettis Ansatz und seine empirischen Probebohrungen sind erhellend und wecken die Hoffnung auf neue Einsichten und Erkenntnisse. Aber im Umgang mit Big Data ist auch Vorsicht geboten. Logik und Wahrheit liegen nicht offenkundig in den gesammelten Daten oder können nicht durch algorithmische Verrenkungen zweifelsfrei ans Licht gezerrt werden. Forschungsrelevante Erkenntnisse lassen sich aus quantitativen Prozeduren allenfalls herleiten und faktisch untermauern, aber hypothetische Erklärungsmodelle und Tendenzen müssen dennoch intuitiv und argumentativ erschlossen und durch qualitativ-hermeneutische Deutung herausgelesen werden.
Digitale Geisteswissenschaft
Franco Moretti. Distant Reading. Aus dem Englischen von Christine Pries. Konstanz: Konstanz University Press, 2016. 220 Seiten.