Während meiner zehntägigen Studienreise im letzten Herbst nach Hongkong erreichten mich per WeChat ‒ der chinesischen Variante von WhatsApp ‒ regelmässig Nachrichten von Kei Tan. Kei Tan studiert an der Hongkong University of Education mit Schwerpunkt Zeichnen und Kunsterziehung auf der Primarschulstufe. Sie war eben erst in die Schweiz gereist, um an der PH Zürich ein Auslandsemester zu absolvieren, und ich stellte ihr ein Zimmer in meiner Wohnung in Zürich zur Verfügung.
Kaum war sie in der Wohnung angekommen, postete sie aus verschiedenen (un-)möglichen Perspektiven zahlreiche Himmels-Bilder durch das offene Fenster ihres Zimmers. «Xia tian shuijiao! Ich schlafe unter freiem Himmel», teilte sie auf WeChat mit. Ihren Freundinnen schrieb sie, sie hätte noch nie ein eigenes Zimmer mit Fenster gehabt. Weitere Fotos folgten: Der rötliche Abendhimmel mit einem Stück Bügeleisen und Klavier am unteren Rand oder der blaue Himmel mit einer Tischecke am oberen Rand. Die Gegenstände der Wohnung bildeten jeweils den Rahmen für ihre Himmelsbilder. Im Gegenzug sandte ich ihr Bilder ihrer Universität, die sie mit Kommentaren versah wie «We are doing a real cultural exchange!». Zu den Bildern zur Konfuzius-Ausstellung im universitätseigenen Museum fragte sie erstaunt «Why are you interested in Confucius?». Und zu den Fotos unseres Treffens mit den Austauschstudierenden der PH Zürich meinte sie: «But you are all professors! Why do you eat at the mensa?»
Kei Tans andere Perspektive auf den Himmel war für mich erhellend. Was in meinem Verständnis eher den Hintergrund bildete, rückte plötzlich in den Vordergrund. Ebenso anregend war ihr Blick auf  Vorder- und Hintergründe des Unterrichts: Während ihres Praktikums erhielt sie die Aufgabe, einige Zeichnungslektionen zu unterrichten. Als Einstieg stellte sie das Werk des Malers Giuseppe Arcimboldo mit einer Power-Point-Präsentation vor. Aufgrund der Rückmeldung der Praxislehrperson zog sie den Schluss, sie müsse beim nächsten Mal nicht mit einem Vortrag, sondern handlungsorientiert einsteigen. Das löste bei ihr einige Fragen aus: Ist es nicht die Pflicht der Lehrperson, ihr Wissen den Lernenden zu vermitteln? Warum soll sie die Lernenden zuerst eine Aufgabe lösen lassen und erst danach ein Modell zeigen? Ihre Beobachtungen zu den Gruppenarbeiten führten zur Frage, welchen Wert Gruppenarbeiten im Zeichenunterricht hätten, in dem doch primär die individuelle Ausdrucksweise gefördert werde.
Das Beispiel zeigt: Kulturbedingt gehen wir häufig von Selbstverständlichkeiten aus. Daher ist der Austausch mit Auslandstudierenden von grossem Wert. Er ermöglicht es, die eigenen Perspektiven zu hinterfragen: In welchen Situationen sind Gruppenarbeiten wirklich förderlich? Und wann führt der Vortrag der Lehrperson vielleicht tatsächlich eher zum Ziel? Was in den Hintergrund gedrängt wurde, kann plötzlich in den Vordergrund rücken. Dies gilt auch ausserhalb der Schule, und so werde auch ich versuchen, meinen Blick künftig vermehrt bewusst auf jene Dinge zu lenken, die ich kaum mehr wahrnehme – beispielsweise den Himmel über Zürich in Kei Tans Zimmer.
Zürichs Himmel aus chinesischer Perspektive
Christine Bieri Buschor ist Zentrumsleiterin in der Forschungsabteilung der PH Zürich.