«Ein Grossteil beherrscht die Erstsprache nur mündlich»

Der Unterricht in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) bietet mehrsprachigen Kindern die Gelegenheit, ihre Erstsprache zu stärken. Nun hat das Zentrum International Projects in Education (IPE) neue Lehrmittel dafür entwickelt. Projektleiter Basil Schader äussert sich über die Bedeutung des HSK und die Notwendigkeit neuer Unterrichtsmaterialien.

Basil Schader, Projektleiter im Zentrum International Projects in Education (IPE) der PH Zürich.

Basil Schader, Projektleiter im Zentrum International Projects in Education (IPE) der PH Zürich.

Akzente: Basil Schader, weshalb ist die Stärkung der Erstsprache so wichtig?
Schader: Ein Grossteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund beherrscht die Erstsprache nur mündlich. Oftmals stammen diese Kinder aus bildungsfernen Familien, haben kaum Zugang zu Büchern in ihrer Sprache und sprechen zu Hause ausschliesslich Dialekt. Um nicht Analphabetinnen und Analphabeten in ihrer Erstsprache zu bleiben und im Sinne einer aus-gewogenen bilingualen Entwicklung sollten sie ihre Sprache jedoch nicht nur mündlich gebrauchen, sondern auch lesen und schreiben können. Verschiedene Studien haben zudem gezeigt, dass vertiefte Kenntnisse in der Erstsprache das Erlernen einer Zweitsprache positiv beeinflussen.

Ist dieser Zusammenhang den Eltern von mehrsprachigen Kindern bewusst?
Oft fehlt dieses Wissen. Trotz verschiedener Informationskampagnen ist es beispielsweise nicht gelungen, die albanischen Familien von der Wichtigkeit des HSK zu überzeugen. Bei der türkischen und albanischen Bevölkerung – zwei besonders grosse Migrationsgruppen – besuchen nur etwa zehn Prozent der Kinder den HSK.

Was sind die Gründe für diese tiefe Quote?
Es gibt verschiedene Ursachen. Ich habe dies am Beispiel der albanischen Community untersucht. Diese Gruppe lebte vor dem Kosovokrieg, also bis in die 90er-Jahre in der Hoffnung, in die Heimat zurückzukehren. Diese Hoffnung hat sich inzwischen zerschlagen, die Perspektiven dort sind zu gering. Deshalb ist es für viele Eltern nicht mehr ersichtlich, weshalb ihre Kinder Albanisch lernen sollten. Der erwähnte Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitsprache scheint sie als Argument für den HSK zu wenig zu überzeugen. Ein weiterer Grund sind die Kosten, die von den Eltern selber übernommen werden müssen. Zudem findet der HSK in der Regel in Randstunden statt. Diese Zeitgefässe stehen in hoher Konkurrenz mit anderen Freizeitaktivitäten. Als Schwierigkeit kommt hinzu, dass der HSK meist kaum mit dem regulären Volksschulunterricht verbunden ist.

Was würde eine stärkere Anbindung bewirken?
Eine enge Zusammenarbeit zwischen HSK und Volksschulunterricht wirkt sich für beide Seiten positiv aus. Wenn die entsprechenden Lehrpersonen Themen gleichzeitig behandeln, ergeben sich Synergien bei der Erweiterung des Wortschatzes und die Kinder werden unterstützt, die beiden Sprachen zu vernetzen. Zugleich kann der Regelunterricht von den Kenntnissen profitieren, die die Schülerinnen und Schüler aus dem HSK mitbringen.

Nun haben Sie eine neue Lehrmittelreihe für den Herkunftssprachlichen Unterricht entwickelt. Was war die Ausgangslage für das Projekt?
Viele Sprachgruppen verfügen über gar keine Lehrmittel. Die Lehrpersonen müssen sich die Materialien selber zusammenstellen. Hinzu kommt, dass viele HSK-Lehrpersonen ihre Ausbildung vor Jahrzehnten beispielsweise im ehemaligen Jugoslawien absolviert haben. Ihr pädagogisches Verständnis ist nicht mehr kompatibel mit den heutigen Vorstellungen von Unterricht. Die Lehrpersonen sind auch nicht darauf vorbereitet, Kinder verschiedener Altersstufen gleichzeitig zu unterrichten. Genau dies ist im HSK jedoch die Regel. Diese Gegebenheiten versuchen die neuen Lehrmittel zu berücksichtigen.

Aus welchen Lehrmitteln setzt sich die Reihe zusammen?
Die Reihe besteht aus zwei Teilen: einem Arbeitsbuch mit Grundlagen und Hintergründen zu der bei uns aktuellen Pädagogik, Didaktik und Methodik sowie fünf Heften mit didaktischen Anregungen zu wichtigen Bereichen des HSK für den Unterricht. Am Arbeitsbuch, das aus 16 Kapiteln mit je einem Theorie- und Praxisteil besteht, haben insgesamt 70 Fachleute mitgearbeitet.

Was sind die Inhalte der fünf Hefte für den Unterricht?
Hier geht es um die Förderung des Schreibens, des Lesens und der Mündlichkeit in der Erstsprache sowie um die Vermittlung interkultureller Kompetenzen und von Lernstrategien. Im Zentrum stehen ganz konkrete, praxiserprobte Umsetzungsbeispiele, die die Gegebenheiten des Mehrklassenunterrichts und des Migrationskontextes berücksichtigen.

In welche Sprachen werden die Lehrmittel übersetzt?
Die Lehrmittel werden in fünf Sprachen übersetzt: Albanisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Englisch, Portugiesisch und Türkisch. Das sind die bei uns grössten Migrationssprachen. Der Vertrieb wird von den jeweiligen Ländern organisiert. Geplant ist, dass die Lehrmittel in ganz Europa zur Anwendung kommen. Das Zentrum IPE der PH Zürich wird dabei unter anderem die Koordination mit den Verlagen übernehmen.

Herkunftsländer finanzieren Lehrpersonen
Der Unterricht in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) wird in Zürich Kindern aus ca. 20 verschiedenen Sprachgruppen angeboten. Er besteht aus zwei Wochenstunden und ist fakultativ. Im Zentrum steht die Erweiterung der Kompetenzen in den jeweiligen Erstsprachen sowie der Kenntnisse über die Herkunftskultur. Eine zweite wichtige Funktion ist die Unterstützung der Kinder bei der Integration in der Schweiz. Die Lehrpersonen stammen aus den jeweiligen Herkunftsländern und werden meist auch von diesen finanziert.