Theo Wehner,     emeritierter Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich,     sieht eine Zergliederung der Arbeitsprozesse als Grund für die zunehmende Belastung im Beruf. Eine Identifikation mit der Schule als Ganzes hilft Lehrpersonen, mit Belastungen umzugehen.
Wir klagen heute gerne über Stress in Beruf und Alltag. Was ist das überhaupt, Stress?
Es gibt kaum einen Beruf, der nicht Belastung in den Vordergrund stellt, selbst Arbeitslose und Künstler klagen über Stress. Von aussen kommt aber kein Stress auf mich zu, sondern sogenannte Stressoren wie Lärm, eine Aufgabe oder ein Terminplan. Diese sind objektiv messbar, das Erleben ist immer subjektiv. Was zu Stress wird, liegt an der Art, wie wir Stressoren aufnehmen und bewerten, aber auch an den Ressourcen und Unterstützungssystemen, die uns zur Verfügung stehen. Letztlich kann ich alles stressig erleben, auch Yoga, einen Abend mit Freunden oder den Kirchgang. Dabei spielt der Zeitgeist ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle: Wer zur Rush Hour durch den Zürcher HB schlendert, wirkt auf viele wie ein Faulenzer.
Wieso hat dieses Stressempfinden so zugenommen?
Die überbordende Erwerbstätigkeit strukturiert und synchronisiert heute alles, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, auch bei Menschen, die nicht erwerbstätig sind. Wir meinen, einen Ausgleich zur Arbeit finden zu müssen. Man sucht die Work-Life-Balance, das Resultat gleicht aber eher einer Work-Work-Balance. Dabei ginge es gar nicht um eine strikte Trennung von Arbeit und Freizeit, sondern um die Vereinbarkeit ganz verschiedener Lebensbereiche. Ein zusätzliches Problem ist, dass in vielen Berufen eine Zergliederung und Verdichtung der Aufgaben stattgefunden hat. Zu einer ganzheitlichen Aufgabe, die ich von vorne bis hinten erledige, habe ich aber ein ganz anderes Verhältnis. Sie wirkt wie ein Stresspuffer. Zudem wird an Arbeitsplätzen kaum mehr darüber gesprochen, wie man Dinge macht, wo man Unterstützung benötigt oder geben kann, sondern nur noch über Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten.
Bei Lehrpersonen haben Überlastungen zugenommen. Was hat sich im Lehrberuf verändert?
Kinder zu unterrichten ist eine sehr ganzheitliche Aufgabe, doch auch diese ist zergliedert worden in Richtung Fliessbandarbeit. Die Einführung fixer Lehrpläne und die Modularisierung des Unterrichts sind möglicherweise vom Segen zum Fluch geworden. Denn Schule ist auf Ganzheit und Beziehungen angelegt. Ein Klassenlehrer oder eine Klassenlehrerin ermöglicht Nähe, Bindung und damit Chancen des Verstehens. Viele Lehrpersonen fühlen sich heute nicht mehr als Teil des Ganzen. In anderen Ländern gibt es bereits Lehrpersonen, die von Schule zu Schule pendeln.
Grund für die Überlastungen im Schulfeld sind also weniger zusätzliche Aufgaben und die hohe zeitliche Belastung als fehlende Beziehungen?
Auch in der Schule hat es Verdichtung gegeben. Doch schwerer als das quantitative Mehr wiegt der qualitative Verlust. Nicht nur die Solidarität untereinander ist ein Stück weit verloren gegangen, sondern auch das Selbstwertgefühl und die Wertschätzung von aussen. Bei vielen Lehrpersonen herrscht eine Kluft zwischen Berufsverständnis und Berufsauftrag, weil dieser gesellschaftlich so aufgeladen ist. Auch Reformen sind für Lehrpersonen immer eine Belastung, weil sie die bisherige Praxis in Frage stellen. Heute unterrichten viele mit Vorsicht und kochen verständlicherweise auf Sparflamme. Das aber mögen Schüler und Eltern gar nicht.
Wie wirkt sich die Identifikation von Lehrpersonen mit der Schule auf den Umgang mit Belastungen aus?
In der Psychologie unterscheiden wir zwischen der personalen Identität, also wie ich mich persönlich sehe, und der geteilten, sozialen Identität, die beschreibt, wie ich mich beispielsweise mit meinem Team identifiziere. Eine Reihe von Studien zeigt, dass die Burnout-Raten bei Lehrpersonen niedrig sind, wenn die soziale Identität stark ist. Die Ursache für Stress liegt demnach nicht darin, dass das Individuum in Stresssituationen mit den Belastungen nicht klarkommt, sondern in fehlender sozialer Unterstützung aufgrund mangelnder geteilter Identität. Gemäss einer Umfrage des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands zur Zufriedenheit im Beruf sind Lehrpersonen mit den ich-bezogenen Aspekten wie Pensum und Vertrag grösstenteils zufrieden. Alles, was das Kollektiv betrifft, Stundenplan oder Projektarbeit, schafft hingegen Unzufriedenheit, weil die personale Identität nicht mehr in ein Wir-Gefühl eingebunden ist.
Weshalb findet diese Einbindung nicht statt?
Die Entsolidarisierung in der Schule hängt natürlich mit der Individualisierung der gesamten Gesellschaft zusammen. Die Leistung von Lehrpersonen wird zudem stark personifiziert, von den Eltern, aber auch vom Kollegium. Ich höre von vielen Lehrpersonen, dass sie ein schlechtes Abschneiden der Schülerinnen und Schüler als Kränkung erleben. Wenn ich für alles verantwortlich bin, kann das nur in die Erschöpfung führen. Wir neigen dazu, Scheitern uns selbst zuzuschreiben, statt zu fragen, was das für unsere Schule bedeutet. Wenn ich mich als Lehrperson auf die soziale Identität beziehen kann, habe ich ein Unterstützungssystem, das ich alleine mit persönlicher Identität nicht erreiche. Es ist enorm, was geteilte Identität und soziale Unterstützung der Gesundheit bringen. Wenn mich eine Kollegin beim Elternabend unterstützt, wird dieser vom Stressor zum Lernfeld.
Wie gelingt es, ein solches Wir-Gefühl zu generieren? Ist dies Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer oder eher der Schulleitung?
Es ist Aufgabe der Gesellschaft. Wir sprechen von der Bildungsgesellschaft, aber das ist dann eine Farce, wenn wir die Zuständigkeitsbereiche und Verantwortlichkeiten einfach abschieben. Es gibt nicht das Elternhaus hier, die Schule dort und das Lernen von acht bis zwölf Uhr. Dieses Auseinanderdividieren muss aufhören, Bildung muss wieder zu unserem gemeinsamen Anliegen werden. Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass wir die Schule brauchen, doch es gelingt nicht mehr, die Komplexität des Lehrberufs und des Schulalltags in die Bevölkerung zu tragen. Die Krise in der Wissens- und Bildungsgesellschaft ist aber stark genug, um einen Wandel hervorzurufen.
Die Gesellschaft verändert sich nicht von heute auf morgen. Welche konkreten Handlungsmöglichkeiten gibt es für Lehrpersonen Ihrer Ansicht nach?
Es braucht viel Fantasie, um vom Modus des Selbstmanagements wieder zum gemeinsamen Handeln zu kommen. Man könnte seinen Unterricht mit anderen viel stärker absprechen, möglich wäre auch ein Co-Teaching in Zweier- oder Dreierteams, kollegiale Beratung, Intervision oder Shadowing ‒ das Begleiten als stiller Beobachter und Feedbackquelle. Die Schulleitung kann natürlich auch für diesen Gemeinsinn sorgen, indem Probleme nicht mehr bilateral zwischen Lehrpersonen und Schulleitung gelöst werden. Es darf auch nicht mehr zugelassen werden, dass Eltern bei Konflikten zuerst die Schulleitung anrufen. Lehrpersonen, aber auch Schülerinnen und Schüler müssen Teilhaber ihrer Schule werden. Wenn sich Schülerinnen und Schüler, aber auch Bürgerinnen und Bürger stärker mit ihrer Schule identifizieren, geht es der gesamten Schule besser.