In Finnland besitzen Lehrpersonen grosse Gestaltungsspielräume, und in den kleinen Dorfschulen haben sie besonders viele Möglichkeiten, diese auszunutzen. Aber die Zahl der Dorfschulen nimmt rasch ab. Angesichts leerer Kassen schliessen viele ländliche Gemeinden ihre Minischulen und setzen auf die Zusammenlegung von Schulen.Â
Erdkunde fällt heute aus. Saila Sirkkala will lieber den in der Finnischstunde begonnenen Unterricht zum finnischen Nationalepos Kalevala fortsetzen. Nachdem die Grundschullehrerin der Lankojärvi-Schule in der nordfinnischen Gemeinde Pello den Inhalt des Epos in wenigen Sätzen zusammengefasst hat, haben die Schülerinnen und Schüler dazu gemeinsam ein Mindmap erstellt. Die meisten Kinder haben natürlich schon etwas von dem Werk gehört. Jetzt sollen sie im Internet zu zweit eigenständig weitere Informationen zum Kalevala suchen.
«Nicht streiten», ermahnt Sirkkala die beiden Geschwister Venla und Roope Rautio, die durch das Los als Partner für diese Übung bestimmt wurden. Venla geht in die 3. Klasse und ihr Bruder Roope in die 5. Klasse, unterrichtet werden sie aber gemeinsam. In Sirkkalas Gruppe sitzen die Schülerinnen und Schüler in den Klassen 3 bis 6, insgesamt sind es 16 Kinder – Alltag in einer finnischen Dorfschule. Die zweite Gruppe der Lankojärvi-Schule besteht aus sieben Kindern von der  Vorschule bis zur zweiten Klasse.
Heute gibt es etwa 500 Dorfschulen in Finnland, vor zwei Jahren waren es noch gut 700 Schulen mit 2000 Schülerinnen und Schülern. Die Kommunen stehen unter Sparzwang und forcieren die Zusammenlegung von Schulen. Zwar hat sich das Tempo der Schulschliessungen mittlerweile verlangsamt, aber kleine Schulen müssen immer wieder um ihre Existenz fürchten. Mit insgesamt 23 Schülern braucht sich die Lankojärvi-Schule derzeit keine Sorgen zu machen, aber schon der Wegzug zweier kinderreicher Familien könnte das Aus für die Minischule bedeuten. Dann würde sich der Schulweg der Kinder, von denen viele mit dem Schultaxi zu Hause abgeholt werden, deutlich verlängern. Bislang sind sie morgens und auf dem Nachhauseweg maximal jeweils eine Stunde mit dem Auto unterwegs; für nordfinnische Verhältnisse ist das nicht lang.
Sitzbälle statt Stühle im Klassenzimmer
Mit Eifer machen sich die Kinder unterdessen an die Arbeit, zeichnen, lesen, machen Notizen und stöbern im Internet nach Musik zum Kalevala. Dabei stellen sie fest, dass ungewöhnlich viele Folk-Rockbands Songs zum Kalevala geschrieben haben. Die Kinder arbeiten harmonisch zusammen, und es ist beinahe unmöglich, sie in ihre Klassenstufen zu unterteilen. Und genau das macht Saila Sirkkala in der Minischule so viel Freude: «Die Kinder lernen sehr viel voneinander.» Von den gemischten Gruppen profitieren laut Sirkkala auch die älteren Schüler. «Die Grossen lernen, den Kleinen die Regeln zu erklären, und sie lernen, auf andere Rücksicht zu nehmen.» Auf ihrem Sattelstuhl rollt Sirkkala von einer Gruppe zur nächsten, gibt Tipps, stellt Fragen und lässt sich die ersten Ergebnisse der Kinder zeigen. Statt auf Stühlen sitzen einige der Schülerinnen und Schüler auf grossen Gymnastikbällen. Die Bälle hat die Schule bereits vor einigen Jahren angeschafft. Sie sind Teil des landesweiten Projekts Schule in Bewegung «Liikkuva koulu», das die Bewegung von Kindern während des Schultages fördern soll. Sirkkala hat ihren Unterricht zu diesem Zweck jedoch bereits vor dem Start des Projekts gerne nach draussen verlegt.
In Finnland wird selbstständiges Arbeiten der Schülerinnen und Schüler in allen Schulen und Klassen gefördert. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Dorfschule in Lankojärvi nicht von einer regulären Schule in der Stadt. «Hier haben wir aber sehr viel mehr Flexibilität», betont Sirkkala. «Wir können alles ganz im Sinne der Kinder planen, und da die Gruppen klein sind, bekommen die Schüler sehr viel persönliche Betreuung.» In der Mathematikstunde beispielsweise verschwinden die Drittklässler und werden zusammen mit der kleineren Gruppe der unteren Klassenstufen unterrichtet. So bleibt Sirkkala mehr Zeit für die älteren Schülerinnen und Schüler. Auch ihren Stundenplan sieht Sirkkala nicht als strikte Vorgabe, sondern als Rahmen, den sie selbst mit Leben füllt. Denn finnische Lehrpersonen verfügen im Unterricht über einen weiten Gestaltungsspielraum. «In Finnland sind wir in der glücklichen Lage, dass die Lehrer in der Klasse grosse pädagogische Freiheit geniessen.»
Neuer Lehrplan bringt viele Änderungen
Eine Herausforderung in der gemischten Gruppe ist hingegen die Vermittlung von neuem Unterrichtsstoff. Dann nimmt Sirkkala einzelne Schülerinnen und Schüler gelegentlich aus der Gruppe heraus und geht mit ihnen den neuen Stoff in Ruhe durch. Um die übrigen Schüler kümmert sich währenddessen eine der beiden Hilfslehrerinnen, die auch Kindern hilft, die zusätzliche Unterstützung benötigen. Schülerinnen und Schüler mit Lernproblemen werden in Finnland früh betreut und erhalten Stützunterricht, um nicht den Anschluss zu verlieren. Sitzenbleiben ist nicht vorgesehen.
Im kommenden Herbst wird ein viel diskutierter neuer Rahmenlehrplan in Kraft treten, der für Schüler und Lehrpersonen im ganzen Land zahlreiche Neuerungen bringt. Erstklässler lernen dann nicht mehr die verbundene Schreibschrift, sondern nur noch die Blockschrift. Künftig arbeiten die Kinder auch schon früher und intensiver als bisher mit  Tablets oder Laptops, und ab dem nächsten Jahr soll der Unterricht zudem sehr viel stärker fachübergreifend ausgerichtet werden. Sirkkala sieht der Reform gelassen entgegen: «Ich habe während meiner ganzen Laufbahn als Lehrerin jeden Stoff fachübergreifend unterrichtet. Das ist viel inspirierender – sowohl für mich als auch für die Kinder.»