In Niederuster läuft seit Anfang dieses Schuljahres ein drei Jahre dauerndes Tagesschul-Pilotprojekt. Das Team nimmt in Uster eine Pionierrolle ein und arbeitet trotz knapper Ressourcen gerne dort. Denn es glaubt an die Zukunft des Modells. «Ein Tag im Leben» der noch jungen Tagesschule Uster.
Ein Freitagmorgen im Dezember. Es ist noch stockfinster, als eine Handvoll Kindergärtler, Erst- und Zweitklässler kurz nach sieben Uhr munter plaudernd die «Tagesschule Uster» (TsU) betritt. Die pädagogische Mitarbeiterin und Fachfrau Betreuung, Sandra Sägesser, nimmt die Ankömmlinge in Empfang. Einige kamen selbständig mit dem Bus aus Uster. Das Frühstück für die Kinder ist bereits vorbereitet. «Was möchtest du aufs Brot?», fragt die junge Frau einen Buben. «Nutella!», kommt es wie aus der Pistole geschossen. Sägesser muss den Buben enttäuschen; diesen Aufstrich gibt es nur in Ausnahmefällen. Stetig treffen weitere Schüler ein. Nach dem Morgenessen beginnt ab 7.45 Uhr die 25-minütige Auffangzeit vor dem Unterricht. Einige Kinder lümmeln auf dem Sofa herum oder schauen Bilderbücher an, ein anderes Kind zeichnet. In diesen frühen Morgenstunden ist auch schon die Kindergartenlehrerin Ruth Beck da.
Die freiwillige Tagesschule Uster in Niederuster ist ein auf drei Jahre angelegtes Pilotprojekt, ähnlich jenem der Stadt Zürich. Es startete mit Beginn des aktuellen Schuljahres. Gegenwärtig führt die TsU einen Kindergarten, eine altersdurchmischte Unterstufe mit 1. und 2. Klasse sowie eine Mittelstufe mit 4. und 5. Klasse. Schwerpunkt des TsU-Konzeptes ist eine konstante Betreuung der Kinder und Zusammenarbeit der Mitarbeitenden. Ein fünfzehnköpfiges Team betreut an fünf Tagen in der Woche rund 60 Mädchen und Buben. Sechs Teilzeit-Lehrpersonen sind für den Unterricht, aber auch für einen Teil der Betreuung verantwortlich. Bei der Anstellung mussten sie sich verpflichten, mindestens zwei Stunden davon zu übernehmen: am Morgen, über Mittag, beim Zvieri oder abends. Umgekehrt erhalten die Lehrpersonen Unterstützung vor allem von den pädagogischen Mitarbeitenden, die als Klassenassistenzen arbeiten, sowie von der Leiterin Betreuung und Sozialpädagogin, Yasemin Yücel. Auch die Betreuungspersonen springen vereinzelt ein. «Diese Praxis fördert das gegenseitige Verständnis für den jeweils anderen Beruf», erklärt Schulleiterin Karin Diethelm.
Mehr als Schule plus Hort
Vor ihrer Anstellung bei der TsU arbeitete die Kindergärtnerin Ruth Beck in einer anderen Gemeinde in der Grundstufe. Nach Ende dieses Schulversuchs suchte sie nach einer Form der Zusammenarbeit zwischen den Lehrpersonen, die weiter geht als nur «Schule plus Hort», und fand diese in der TsU. Nach dreieinhalb Monaten zieht die Teilzeit-Lehrerin eine erste Bilanz: «Zusammenarbeit, Austausch und Kontakt zwischen den Lehrpersonen und der Betreuung sind sehr eng», freut sie sich. Die grösste Schwierigkeit ortet sie im Moment darin, regelmässige Teamsitzungen abhalten zu können, um Anstehendes in Ruhe besprechen zu können. «Diese Bedingung ist für mich noch nicht vollends erfüllt.»
Ein Blick auf den ausgeklügelten Stundenplan der Schülerinnen und Schüler zeigt: Die Koordination der Unterrichts- und Betreuungszeiten ist eine Herausforderung. Da werden die Terminfindung für Teamsitzungen, an der alle Mitarbeitenden teilnehmen können, oder Elterngespräche zum organisatorischen Hochseilakt. Diese können aufgrund der Betreuung, welche an der TsU bis um 18.30 Uhr gewährleistet ist, immer erst am Abend stattfinden. So führte das Team beispielsweise auch den Schulentwicklungstag an einem Samstag durch.
«Ganztagesstrukturen entsprechen nichtsdestotrotz einem gesellschaftlichen Bedürfnis», sagt Ruth Beck. Es mag wenig erstaunen, dass sich das verstärkte Bedürfnis nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch in Uster zeigt. Die Initianten der TsU wurden im Frühjahr 2015 förmlich von interessierten Eltern überrannt: «Es trafen innert kürzester Zeit knapp 100 Anmeldungen ein», erinnert sich Schulleiterin Karin Diethelm. Noch vor einem Jahr hatte das Vorgängerprojekt nicht ausreichend Anmeldungen, um eine Klasse eröffnen zu können. Die 2014 neu konstituierte Behörde nahm den Faden wieder auf und machte sich an die Umsetzung der im Leistungsauftrag als Ziel formulierten Tagesschule. Um dem Projekt beim zweiten Anlauf bessere Chancen zu verschaffen, wurden ein Flyer gedruckt und im November 2014 eine Elternveranstaltung organisiert. Diese füllte eine ganze Turnhalle. Die Bedingung für den Startschuss der Tagesschule war die Anmeldung von mindestens 14 Kindern ‒ die Minimalzahl für eine Klasse mit altersdurchmischtem Lernen. In ihren kühnsten Träumen hätte Karin Diethelm, die bereits sieben Monate vor Eröffnung im Projekt mitarbeitete, nicht mit 100 Anmeldungen gerechnet. «Weil wir nicht zu viele abweisen wollten, eröffneten wir schliesslich drei Klassen.» Deren Kinder kommen aus Familien mit den verschiedensten sozialen Hintergründen.
Mehr Geld, mehr Raum, mehr Ressourcen
Mittlerweile ist es zehn Uhr morgens. Vor dem grossen Fenster des wohnlich eingerichteten Schulleitungsbüros zieht die ehrenamtlich arbeitende Seniorin mit den jüngeren Tagesschulkindern vorbei. Einige winken der Schulleiterin zu, sie winkt zurück und fährt fort: «Der neue Pavillon ist erst im Sommer 2015 erstellt worden.» Diethelm war bei der Projektierung des zweistöckigen Gebäudes involviert. Die TsU bewohnt sechs Räume; zwei weitere Schulzimmer und zwei kleinere Gruppenräume belegen Schüler der Schuleinheit Niederuster. Im Projekt wird auch die multifunktionale Nutzung der Räume getestet, um eine höhere Auslastung zu erreichen. «Das Lehrerzimmer ist auch Handarbeitszimmer oder Konferenzraum, und Unterricht findet durchaus mal im Essraum statt», sagt Diethelm.
In den sieben Monaten bis zur Eröffnung im August 2015 gab es nebst dem Bau des Pavillons noch viel mehr zu planen: Das Team musste aufgebaut, Schulentwicklung betrieben, das alltägliche Zusammenleben definiert und Anschaffungen mussten getätigt werden. «Vom Zahnbürsteli bis zum Lehrmittel einfach alles», blickt Diethelm zurück. «Es fühlt sich an, als hätte ich eine Rekrutenschule hinter mir, und es ist nach wie vor streng.» Nach 100 Tagen Betrieb lud die Schulleiterin im November vergangenen Jahres die Primarschulpflege, Schulleiter der Primarschule Uster und die Primarschulverwaltung zu einer Präsentation ein. Der Elternrat holte nach zwölf Wochen Schulbetrieb bei den Eltern der Tagesschulkinder mittels Umfrage deren Feedback ein. Sie erteilten der TsU durchwegs gute Noten: Grundsätzlich sind sie sehr zufrieden und würden die Tagesschule weiterempfehlen. Vor allem schätzen sie das grosse Engagement der Mitarbeitenden, dass Schule und Betreuung verschmelzen und sich alles ‒ mit Ausnahme der Turn- und teilweise der Handarbeitsstunden ‒ unter einem Dach abspielt. Ebenfalls positiv werten sie das altersdurchmischte Lernen, dass die Hausaufgaben in der Schule erledigt werden, die individuelle Förderung und den familiären Betrieb.
Verbesserungspotenzial sehen sie in den Platzverhältnissen oder den Rückzugsmöglichkeiten für die Mitarbeitenden und die Kinder. Als weitere Besorgnis kristallisierte sich die sehr grosse Belastung der Mitarbeitenden heraus. Karin Diethelm bestätigt die starke Beanspruchung, denn der Aufbau bedeutet viel Arbeit.
Hörnli, Gehacktes und Zuwendung
Es ist jetzt 11.40 Uhr, und der Unterricht ist beendet. Jene Kinder, die am Nachmittag Unterricht haben, essen in der Schule. Dies ist im Schulkonzept festgelegt. Das Mittagessen müssen die Eltern bezahlen, ebenso alle anderen freiwilligen Angebote wie Morgenessen, Zvieri, Nachmittags- und Abendbetreuung sowie den Ferienhort. Im Essraum ist aufgetischt. Auch zwei Lehrerinnen, die nach dem Unterricht die Betreuung übernehmen, essen mit den Kindern. Eine Betreuungsperson ist für elf bis fünfzehn Schülerinnen und Schüler zuständig. Das Mittagessen findet in zwei Staffeln statt. Damit die Jüngeren eine längere Mittagspause haben und sich ausruhen können, bevor der Unterricht am Nachmittag wieder beginnt, sind sie in die erste Gruppe eingeteilt. Mittels Präsenzliste wird kontrolliert, ob alle Kinder da sind. Das Menü «Hörnli, Gehacktes und Apfelmus» stösst auf Begeisterung, und die Information, dass es heute Dessert gibt, quittieren die Kinder mit einem lauten «Yeah!». Kindergärtnerin Ruth Beck geht an ihrem Tisch fürsorglich auf das Anliegen eines Kindes ein. Zuwendung ist ein wichtiges Element in der Tagesschule Uster.
Nach dem Essen ist Ruhezeit. Im Spielzimmer machen es sich drei Kinder in einem grossen, mit Kissen ausstaffierten Korb bequem, zwei andere liegen auf Matratzen. Zur gleichen Zeit erzählt Yasemin Yücel, Leiterin Betreuung, im abgedunkelten Kindergartenraum eine Geschichte. Die Schülerinnen und Schüler sitzen oder liegen auf Kissen am Boden oder auf Bänken. Draussen rennen Mittelstufenschüler mit Philipp Landert, an der Schule angestellter Zivildienstleistender, um die Wette, drinnen wird die Küche geschrubbt. Auch Lehrerin Sybille Brunner, die heute Mittagsbetreuung machte, hat eine 45-minütige Ruhepause, die sie jedoch häufig zum Vorbereiten und Korrigieren nutzt. Ein Mittelstufenkind platzt auf der Suche nach einem Gegenstand ins Zimmer. «Ich hätte gerne über Mittag einmal vollkommene Ruhe», sagt die dreifache Mutter. «Es ist wie zu Hause – die Kinder sind immer da.» Trotzdem schätzt sie die familiäre Atmosphäre sowie die überschaubare Grösse der Schule. Ebenfalls positiv wertet sie, dass in einer Tagesschule eine nähere Beziehung zu den Kindern möglich wird. Die Arbeit sei jedoch anstrengend. «Am Abend bin ich nudelfertig.» Den Wechsel an die TsU hat sie noch nie bereut: «Es gefällt mir gut, im kleinen Team zu arbeiten ist speziell und ich finde es spannend, etwas Neues zu machen.»
Am Nachmittag ist es merklich stiller geworden im Haus. Einige Kindergartenkinder sind inzwischen von den Eltern abgeholt worden, die Schülerinnen und Schüler haben Unterricht. Während der Unterrichtszeit erledigen sie jeweils auch ihre Hausaufgaben. Im grossen Aufenthaltsraum spielt noch etwa ein halbes Dutzend der jüngsten Tagesschulkinder. «Zivi» Philipp Landert schaut mit einem Buben ein Bilderbuch an, Betreuer Manuel Pfister verbindet einem Jungen den Daumen. Nach Schulschluss um 16.15 Uhr werden sie auch noch einige Schüler bis um 18.30 Uhr betreuen. «Wir essen zusammen Zvieri und gehen noch an die frische Luft», sagt Pfister. Der gelernte Schrift- und Reklamegestalter arbeitete als Buschauffeur und absolvierte ein Praktikum in einer Heilpädagogischen Sonderschule. Nach dieser Erfahrung war für ihn klar, dass er einen sozialen Beruf ergreifen und die Weiterbildung zum Sozialpädagogen in Angriff nehmen möchte.
Auf der Suche nach Personal konnte sich Karin Diethelm über einen Mangel an Bewerbungen nicht beklagen. «Es meldeten sich vor allem Leute, die Erfahrungen in der Pädagogik und Schulentwicklung haben und etwas Neues mitgestalten und aufbauen wollten.» Weil alle im Team auch Erziehungsarbeit leisten, sei es nötig, gegenüber den Kindern eine gemeinsame Haltung zu entwickeln. Durch die Nähe zu ihnen kennen die Mitarbeitenden deren Sorgen und Nöte. «Im Gegensatz zum gängigen Schulbetrieb können wir Probleme schneller auffangen», ist die Schulleiterin überzeugt. Teilweise sind die Kinder zehn oder elf Stunden in der TsU. «Da fallen auch Themen an, mit denen man in einem normalen Schulbetrieb nicht konfrontiert ist. In dieser Hinsicht müssen wir uns alle noch etwas sensibilisieren», meint die Schulleiterin. Als nächste grosse Herausforderung steht die Schul- und Klassenorganisation für das kommende Schuljahr an. «Um den Betrieb optimal führen zu können, werden wir bis zum Ende der Pilotphase eine weitere Klasse eröffnen», sagt Diethelm.
Gutes Omen für die Zukunft
In der Auswertung der Umfrage «100 Tage Tagesschule Uster» sind auch Kinderstimmen zu finden. Viele der gedruckten Aussagen schmeicheln der TsU: «Unsere Tochter bezeichnet die Tagesschule als Daheim», heisst es etwa. Nach dem Unterschied zur früheren Schule gefragt, meint ein 4.-Klässler: «Die Lehrerinnen und Betreuer schauen nicht weg, wenn etwas ist.» Und ein vierjähriges Mädchen möchte am liebsten mit der Familie in die Schule zügeln.
Die meist positiven Rückmeldungen sind ein gutes Omen für die Zukunft. Dennoch endet das Pilotprojekt 2018. Die grösste Sorge der Eltern ist die Unsicherheit, wie es weitergeht. Kann es sein, dass die Tagesschule wieder geschlossen wird? Karin Diethelm hegt trotz Schwierigkeiten Hoffnung: «Ich denke nicht. Sie ist unsere Zukunft.»