Die Schweiz hinkt bei der Ganztagesbetreuung im internationalen Vergleich hinterher. Tagesschulen stellen aber auch hierzulande das Zukunftsmodell dar. Um die Vorteile nutzen zu können, müssen Zuständigkeiten sauber ausgehandelt werden.

Betrieb bis in die Abendstunden: die Tagesschule Horgenberg in der Dämmerung. Foto: Beat Bühler
Stichwörter wie «Staatskinder» oder «Verschulung der Kindheit» zeigen: Das Thema Ganztagesbildung erhitzt die Gemüter. Dass Emotionen in die Debatte rund um die Einführung von Tagesschulen einfliessen, ist verständlich, tangieren Tagesstrukturen mit der Familie doch höchst sensible Bereiche. Aus einer Aussenperspektive mag die emotionsgeladene Debatte jedoch für Kopfschütteln sorgen. Denn in der Schweiz wird heftig über eine Schulform debattiert, die im nahen Ausland längst eine Selbstverständlichkeit ist. Während der im Nachgang der PISA-Studien angestossene Ausbau von Ganztagesschulen in Deutschland noch in vollem Gange ist, sind Tagesschulen in südlichen Ländern, Skandinavien und Grossbritannien nicht mehr wegzudenken. In Frankreich, dem bezüglich Ganztagesbetreuung eine Vorreiterrolle zukommt, provozierten geplante Kürzungen der schulischen Betreuungszeiten vor einigen Jahren gar heftige Protestreaktionen vonseiten der Eltern. Diese bestätigten, dass die 1880 eingeführte staatliche Ganztagesbetreuung schlicht nicht mehr aus dem französischen Familien- und Berufsalltag wegzudenken ist.
Gemeinsam mit Österreich, das ein Halbtagesschulsystem kennt, nimmt die Schweiz also eine europäische Sonderposition ein. Auch hierzulande wurden in Landschulen zwar schon früh Mittagsverpflegung und Betreuung angeboten. Doch die Integration gut ausgebildeter Mütter in den Arbeitsmarkt war nicht wie in anderen Ländern mit einer flächendeckenden Einführung von Ganztagesbildung verbunden, sondern mit einem bunten Flickwerk aus unterschiedlichsten Betreuungssituationen. Am Anfang der Entwicklung zur vermehrten Berufstätigkeit von Müttern wurde die Kinderbetreuung primär im familiären Umfeld oder beispielsweise über Tagesmütter geregelt. Mit der wachsenden Anzahl betreuungsbedürftiger Kinder kamen jedoch zunehmend Forderungen nach institutionellen Lösungen auf, und vielerorts wurden Mittagstische und Horte eingeführt. Doch abgesehen vom Tessin stellen Tageschulen in der Schweiz nach wie vor eine Ausnahme dar.
«Wir haben in der Schweiz ein anderes Verständnis von Bildung und Erziehung», erklärt Sibylle Mathis, Dozentin an der PH Zürich im Fachbereich Sozialisation und Differenz. Dieses Verständnis fusse auf einer Trennung zwischen formaler Bildung, die in der Schule stattfinde, und ausserschulischer Bildung und Erziehung, die in Familie und Freizeit angesiedelt seien. Daher sei die Ansicht, dass Tagesschulen einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von Kindern haben, hierzulande noch wenig verbreitet. Selbst bei Eltern von Kindern, die eine Tagesschule besuchen, sei nicht zwingend ein solches Verständnis vorhanden, so Mathis.
Da jedoch auch in der Schweiz immer mehr Kinder eine familienergänzende Betreuung benötigen, ist die Tagesschule auch hierzulande das Modell der Zukunft. In der Stadt Zürich beispielsweise werden zurzeit 50 Prozent der Kinder im Primarschulalter familienergänzend in Tagesschulen, Kindertagesstätten und an Mittagstischen betreut, für 2025 wird bereits mit einem Anteil von 80 Prozent gerechnet. Als Reaktion auf diese Entwicklungen lancierte die Stadt Zürich das Pilotprojekt «Tagesschule 2025», das eine flächendeckende Einführung von Tagesschulen zum Ziel hat (siehe Box).
Mehr Freiheiten in der Planung
Ganztagesbildung soll laut Mathis als Chance zur konsequenten Umsetzung eines umfassenden Bildungsbegriffes betrachtet werden, der formale Bildung und informelles Lernen vereint und eine Rhythmisierung des Lernens ermöglicht. Die Tagesschule wird zum ganzheitlichen Lern- und Lebensraum, der Unterricht, Betreuung und Begleitung, Essen, Hausaufgaben und Freizeit vereint. «Wenn Schule als Ganztagesablauf geplant wird, sind Lehrpersonen auch freier in der Unterrichtsgestaltung und können besser auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen», sagt Mathis. Die Rechnung ist simpel: Verbringen die Kinder mehr Zeit in der Schule, kann flexibler zwischen formalen und informellen Einheiten, konzentrierter Arbeit und Pausen gewechselt werden, als wenn Lernziele innerhalb der kompakten Blockzeiten erreicht werden müssen. Eine Entwicklung zu einer freieren Zeitstrukturierung ist laut Mathis heute bereits auch in Schulen ohne Tagesstrukturen zu beobachten. Vorgegebene Pausen würden zunehmend durch individuelle, dem Tagesprogramm gerechte Pausen ersetzt. Doch eine konsequente Rhythmisierung des Schultages lässt sich nur mit einer gebundenen Tagesschulform umsetzen. In der gebundenen Tagesschule ist das Betreuungsangebot im Gegensatz zur ungebundenen Form obligatorisch. So sind alle Kinder zur Kernzeit, die Unterricht, Verpflegung und Betreuung umfasst, anwesend.
Förderung aller Kinder gewährleistet
Die geforderte Rhythmisierung darf aber nicht als akribisch durchgeplantes Programm verstanden werden. Denn Rückzugsorte und Raum für freies Spielen ohne Leistungserwartungen sind wichtige Elemente einer guten Tagesschule. Spricht Mathis von informellem Lernen, das im rhythmisierten Tagesablauf integriert wird, ist das im Sinne eines möglichen Angebotes zu verstehen, das zur Chancengleichheit beitragen kann und damit eine weitere Chance der Tagesschule darstellt. «Die Anregungen, die ein Kind neben dem formalen Unterricht in der Schule für eine gesunde geistige, soziale und emotionale Entwicklung braucht, können nicht in jeder Familie geboten werden», sagt Mathis. Tagesstrukturen könnten hingegen gewährleisten, dass alle Kinder von Lern- und Spielanregungen, Förder- und Freizeitangeboten und der Unterstützung bei Hausaufgaben profitieren, wodurch soziale Ungleichheiten ein Stück weit ausgehebelt würden. Die Krux liegt jedoch darin, dass gerade Kinder aus sozial benachteiligten Familien in ungebundenen Tagesschulen die freiwilligen Angebote weniger nutzen. Dies nicht nur aufgrund der Kosten von Betreuungsangeboten, sondern teilweise auch aus einer Überforderung, die jede proaktive Handlung, wie sie eine Anmeldung darstellt, verhindert. «Die Betreuungsangebote sollten gerade diesen Kindern, die in ihren Familien nicht oder nicht genügend gefördert werden, zur Verfügung stehen», sagt Mathis. Dies kann eigentlich nur eine gebundene Tagesschule gewährleisten, doch die Mehrheit der Tagesschulen in der Schweiz geht nach wie vor den Weg des ungebundenen Modells.
Oftmals spielt in der Debatte ein traditionelles Familienbild mit, gemäss dem die Erziehung ausschliesslich Sache der Familie ist. «Dieses Bild entspricht kaum der heutigen Realität», sagt Frank Brückel, Dozent im Weiterbildungsbereich «Schule und Entwicklung» an der PH Zürich. «Die Kindheit heutiger Kinder ist eine komplett andere als jene ihrer Eltern.» Familienformen haben sich verändert, die Berufstätigkeit hat zugenommen, Arbeitszeiten sind unregelmässiger und flexibler geworden.
Brückel fordert eine nüchterne Sicht auf die Thematik. Statt die eigene Kindheit als Vergleich hinzuzuziehen, gelte es zu fragen, in welchem Umfeld Kinder heute gut aufwachsen können. «Die Tagesschule kann auf jeden Fall ein solcher Ort sein», sagt Brückel. Dieser Ansatz erfordert aber auch, dass keine Tagesstrukturen verordnet werden, wenn bei Eltern und Lehrpersonen keine Bereitschaft besteht.
Bei der Konzeptionierung und Weiterentwicklung von Tagesschulen beobachtet Brückel heute eine Umorientierung. Beschäftigten sich Schulen früher vorwiegend mit Struktur- und Organisationsfragen, fliessen heute zunehmend pädagogische Fragen in die Konzeption und Weiterentwicklung mit ein. «Es wird nicht mehr nur gefragt, wie man eine Tagesschule organisiert, sondern auch, was ihr Ziel ist.» Erst mit diesen Überlegungen sei man bei der Tagesschule angekommen. Für die Konkretisierung eines Schulkonzepts oder die Reflexion der bestehenden Praxis steht die PH Zürich Tagesschulen mit einem Beratungsangebot zur Seite. Dabei kommt das von der PH Zürich mit Unterstützung der Stiftung Mercator Schweiz und der Ernst Göhner Stiftung erarbeitete Modell QuinTas (Qualität in Tagesschulen) zum Tragen, das eine von allen Beteiligten gemeinsam erarbeitete Zielsetzung Struktur- und Prozessfragen voranstellt und das Wohlbefinden des Kindes ins Zentrum setzt. So lautet die Antwort auf die Einstiegsfrage, was eine gute Tagesschule ausmache, in den meisten Schulen gleich: «Dass die Kinder gerne zur Schule kommen.» Die gemeinsame Zieldiskussion dauere zwar oft lange, doch fühlten sich Schulen, die sich auf diese Diskussion einlassen, danach gestärkt, sagt Brückel. Bei der Umsetzung der Ziele werde dann kaum noch Hilfe benötigt.
Bei diesen Diskussionen beobachtet Brückel bei Lehr- und Betreuungspersonen immer wieder Unsicherheiten über die künftigen Zuständigkeiten, auch taucht oft die Frage nach der Nähe und Distanz zu den Schülerinnen und Schülern auf. «Muss ich mich am Mittag zur Betreuung zur Verfügung stellen, wenn ich das nicht will?», «Will ich den Kindern überhaupt eine andere Seite von mir zeigen?», «Was wird meine neue Rolle als Betreuungsperson im Schulhaus sein?». Dies sind Fragen, die geklärt werden müssen, damit die Zusammenarbeit funktioniert. Als besondere Herausforderung bezeichnet Brückel die Zusammenarbeit der verschiedenen Professionen. Eine enge Zusammenarbeit und ein reger Austausch zwischen Lehr- und Betreuungspersonen können für beide Seiten entlastend sein, und gleichzeitig kostet dies Zeit und verlangt ein Ändern von Routinen. «Wenn es gelingt, die Professionen aus ihren Komfortzonen zu locken, dann ist der grösste Schritt getan», ist Brückel überzeugt.
Implizites explizit machen
«Damit die Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen, Betreuungsteam und Eltern funktioniert, müssen die Zuständigkeiten erst klar ausgehandelt werden», sagt auch Patricia Schuler Braunschweig, die an der PH Zürich das Zentrum für Professionalisierung und Kompetenzentwicklung leitet. Sie untersucht gemeinsam mit Christa Kappler im Rahmen des mit der ZHAW durchgeführten Schweizer Nationalfonds-Forschungsprojekts «AusTEr» (Aushandlungsprozesse der pädagogischen Zuständigkeiten in Tagesschulen im Spannungsfeld öffentlicher Erziehung), wie diese Zuständigkeiten an Tagesschulen ausgehandelt werden. «An der Oberfläche sieht es schnell einmal aus, als laufe alles gut», sagt Schuler Braunschweig. So werden beispielsweise an einer der untersuchten Schulen für den Austausch zwischen Betreuungspersonen und Lehrpersonen wöchentlich 40 Minuten eingeplant. «Die 40 Minuten sind aber keine Garantie für eine gute Zusammenarbeit. Relevant ist, mit welcher Haltung man sich begegnet.» Folglich richtet sich der Fokus des Projekts auf jene Strukturen, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind und einer Zusammenarbeit im Wege stehen können, wenn sie nicht sichtbar gemacht werden.
In einer Vorstudie an einer Zürcher Tagesschule zeigten sich zwischen den sichtbaren Aushandlungen und den unausgesprochenen Erwartungen oftmals grosse Unterschiede. So beklagten sich sowohl Lehrpersonen als auch Betreuungspersonen darüber, dass in vielen Situationen unklar blieb, wer die Verantwortung über die Kinder hatte und sich unnötigerweise beide Professionen verantwortlich fühlten. Und obwohl die meisten Beteiligten überzeugt waren, dass eine offene Haltung und ein guter Informationsaustausch zwischen den Professionen die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit bilde, bezogen sich Lehrpersonen oftmals ausschliesslich auf Lehrpersonen, wenn sie von einem Team sprachen, wohingegen sich bei Betreuungspersonen eher ein multiprofessionales Verständnis zeigte. Während sich in diesem Verständnis eine potenzielle Aufwertung des Betreuungsberufs mit der Eingliederung in die Schule ausdrückt, kann sich hinter der Haltung der Lehrpersonen eine Befürchtung zeigen, dass ihr Beruf durch zusätzliche Betreuungsaufgaben verwässert werde. Gemäss Schuler Braunschweig kann mit diesen impliziten Befürchtungen konstruktiv gearbeitet werden, wenn sie hervorgebracht und ausgesprochen werden.
Grundsatzdiskussion über Bildung und Erziehung
Die Untersuchung bringt somit nicht nur Erkenntnisse für die Forscherinnen, sondern stellt gleichzeitig ein Modell dar, wie die Zusammenarbeit der Professionen durch das Aussprechen impliziter Haltungen und Erwartungen verbessert werden kann. Die Reflexion und das Abgleichen eigener Vorstellungen mit der Realität kommen auch in einem gemeinsamen Ausbildungsmodul der PH Zürich und der ZHAW zur Zusammenarbeit von Schule und sozialer Arbeit zum Zuge (siehe Beitrag rechts). Laut Schuler Braunschweig kommt es hier immer wieder zur überraschenden Selbsterkenntnis, wenn etwa angehende Lehr- oder Betreuungspersonen trotz einer positiven Einstellung gegenüber Tagesschulen auf eigene traditionelle Familienbilder stossen.
Zu den Beteiligten dieser Aushandlungsprozesse werden im Projekt «AusTEr» neben Lehr- und Berufspersonen die Schulleitung, Schulpflege, Eltern und Kinder gezählt. Wenn die Schule viele Aufgaben übernehme, die traditionell zur Familienzeit gehörten, seien damit Erwartungen verbunden, sagt Schuler Braunschweig. Und diese gelte es auszusprechen. Um bei der Umsetzung von Ganztagesstrukturen weiterzukommen, müsse zuerst geklärt werden, welche Rollen der Schule und welche der Familie zukommen sollen: «Die Schweiz braucht eine Grundsatzdiskussion über öffentliche Bildung und Erziehung.» So könne erkannt werden, dass Tagesschulen mehr sind als Schulen mit Betreuungsangebot.