«Die jetzigen Angebote sind noch zu wenig attraktiv»

In der Schweiz verfügen über 600’000 Erwachsene zwischen 25 und 64 Jahren über keinen Abschluss auf der Sekundarstufe II. Es bestehen zwar verschiedene Wege zur beruflichen Nachqualifizierung, doch sie werden noch zu selten genutzt. Weshalb dies so ist und was man dagegen unternimmt, erklärt Markus Maurer, Professor für Berufspädagogik an der PH Zürich.

Markus Maurer, Professor für Berufspädagogik an der PH Zürich. Foto: Reto Klink

Markus Maurer, Professor für Berufspädagogik an der PH Zürich. Foto: Reto Klink

Akzente: Markus Maurer, in der Schweiz verfügen über 600 000 Personen weder über einen Berufs- noch einen Gymnasialabschluss. Dies sind mehr als zehn Prozent aller Erwerbstätigen. Welche Personen sind am meisten betroffen?
Maurer: Die grösste Gruppe bilden Personen mit Migrationshintergrund, die seit vielen Jahren in der Schweiz leben und arbeiten, jedoch nie einen Berufsabschluss gemacht haben. Sie arbeiten als unqualifizierte Arbeitskräfte etwa in der Bauwirtschaft, in der Industrie oder in der Betreuung. Eine weitere Gruppe bilden Personen, die bereits hier die Schule besucht haben und dann entweder die Lehre abgebrochen haben oder gar nie in eine Lehre eingetreten sind. Zunehmend wichtiger werden Flüchtlinge, die erst seit kurzem in der Schweiz leben.

Welche Möglichkeiten für eine berufliche Nachqualifizierung gibt es für Erwachsene?
Es bestehen grundsätzlich vier Möglichkeiten: die normale sowie die verkürzte Berufslehre, die direkte Zulassung zur Lehrabschlussprüfung sowie das sogenannte Validierungsverfahren, bei dem bereits vorhandene Kompetenzen angerechnet werden. Diese vierte Möglichkeit besteht noch nicht so lange und hat sich je nach Kanton und Branche noch wenig etabliert.

Weshalb werden die Angebote zur Nachqualifizierung noch nicht ausreichend genutzt?
Die Ursachen sind sehr verschieden. Bei den Personen mit Migrationshintergrund, die ungelernt in die Schweiz gekommen und hier als unqualifizierte Arbeitskräfte tätig sind, ist ein Grund zentral: Die bestehenden Angebote für eine berufliche Nachqualifizierung sind für sie noch zu wenig attraktiv. Angenommen, jemand möchte eine Lehrabschlussprüfung nachholen, dann muss er oder sie sich in speziellen Kursen darauf vorbereiten können. Es gibt jedoch nur wenige Angebote für Erwachsene, die am Abend stattfinden. Müssen die Leute den regulären Berufsschulunterricht besuchen, ist dies mit einem nicht zu bewältigenden Erwerbsausfall verbunden, da dieser Unterricht tagsüber stattfindet. Ein weiteres Problem sind die sprachlichen Hürden. Viele dieser Personen sprechen kaum Deutsch.

Das heisst, es braucht mehr Erwachsenenklassen?
Genau. Dies ist jedoch mit hohen zusätzlichen Kosten verbunden. Diese müssen von den Kantonen übernommen werden, da die Finanzierung der Berufsbildung in den Bereich der Kantone fällt.

Haben die Kantone die Dringlichkeit erkannt?
Die Kantone sehen die Dringlichkeit, die Sensibilität wächst, auch im Kanton Zürich. Die Frage ist aber, in welchem Ausmass wirksame Angebote geschaffen werden können. Das ist eben auch eine Frage des Geldes – und dieses lässt sich nicht so einfach finden in Zeiten mit hohem Spardruck. Die Mehrausgaben für Erwachsene sollten ja nicht auf Kosten der Berufsbildung für Jugendliche gehen. Wichtig ist daher vor allem die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Kantonen. Dies mit dem Ziel, in den verschiedenen Berufsbranchen kantonsübergreifende Erwachsenenklassen bilden zu können. Ein gutes Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit zwischen den Kantonen der Nordwestschweiz, die sich auch in einer gemeinsamen Internetplattform für die Berufsbildung von Erwachsenen zeigt.

Was sind auf Seite der Politik und der Arbeitgeber Gründe, sich verstärkt für die berufliche Nachqualifizierung von Erwachsenen einzusetzen?
Ein wichtiger Punkt ist der Fachkräftemangel. In der Schweiz verfügen viele Branchen über zu wenig gut ausgebildetes Personal. Hinzu kommt die sozialpolitische Perspektive: Personen ohne Berufsabschluss sind vergleichsweise öfter von Arbeitslosigkeit betroffen – und daher entsprechend auch stärker armutsgefährdet.

Sie haben die Situation der Flüchtlinge angesprochen. Was ist bei dieser Gruppe die grösste Herausforderung?
Flüchtlinge beispielsweise aus Eritrea können teilweise als höchste Ausbildung einen Primarschulabschluss vorweisen. Diese Personen an die Berufsbildung heranzuführen, ist schwierig. Ihre Berufserfahrung ist zudem im Schweizer Arbeitsmarkt kaum nutzbar. Es gibt einige Pilotprojekte, doch steht man hier noch am Anfang.

Eine Möglichkeit bei guter Qualifizierung ist das bereits erwähnte Validierungsverfahren. Welches Potenzial sehen Sie darin?
Dabei werden vorhandene Kompetenzen angerechnet, so dass die Betroffenen eine im Umfang reduzierte Abschlussprüfung absolvieren können. Dieser Weg ist eine grosse Chance. Allerdings ist er noch mit vielen Fragen verbunden. Beispielsweise, wie die Kompetenzen erfasst werden können. Zurzeit ist das Verfahren stark verschriftlicht und dauert zudem sehr lange. Es braucht andere Möglichkeiten, damit die betroffenen Personen ihre Kompetenzen in der Praxis zeigen zu können.

Welche Rolle hat die PH Zürich bei dem Thema?
Wir nehmen eine Vernetzungsfunktion ein und bringen Stakeholder wie Ämter und Verbände zusammen. Aktuell führen wir eine Veranstaltungsreihe durch, die verschiedene Aspekte der beruflichen Nachqualifizierung von Erwachsenen thematisiert. Auch arbeiten wir in Studien als Experten mit. Im Frühjahr erscheint eine Publikation, in der wir die Situation in einer Bestandsaufnahme zusammenfassen. Die wichtigsten Herausforderungen sind unserer Ansicht nach die folgenden drei Elemente: eine noch bessere Anrechnung bereits erworbener Kompetenzen, die Zusammenarbeit zwischen den Kantonen sowie die Klärung der Finanzierung.