Mit dem Netzwerk Bildung & Raum fördert Ueli Keller das Verständnis für die Auswirkung von Räumen auf die Bildung. Er sagt, Tagesschulen erfordern kein grundsätzliches architektonisches Umdenken. Viel wichtiger sei eine sorgfältige Erhebung der Nutzerbedürfnisse und der bestehenden Potenziale.
Akzente: Wie sieht die perfekte Tagesschule aus?
Keller: Ich sträube mich gegen den Begriff der perfekten Tagesschule. Die Vorstellung einer besten und einzig gültigen Form ist alles andere als lern- und lebensfreundlich. Statt nach der besten Schule zu verlangen, sollte man fragen: «Welche Tagesschule passt zu uns und ist für uns umsetzbar?» Das Vorgehen, wie diese Schule entsteht, ist entscheidend für die spätere Nutzung der Räume.
Woraus besteht dieses Vorgehen konkret?
Im Idealfall wird vor der Ausschreibung eines Architekturwettbewerbs eine Betriebsbeschreibung gemacht: Welche Schule wollen wir? Wofür sollen sich die Räume eignen? Diese Fragen sollten alle Verantwortlichen gemeinsam klären. Zu diesen zähle ich die Behörden, Lehr- und Betreuungspersonen, die Schulleitung, Eltern, aber auch die Kinder, die die Räumlichkeiten später hauptsächlich nutzen werden. Erste Bedingung für ein gutes Gelingen ist dabei der Wille. Wenn die Verantwortlichen nur eine Tagesschule machen sollen und nicht machen wollen, lässt sich kein bestmöglicher Lern- und Lebensraum gestalten.
Wie verläuft dieser Einigungsprozess über die Nutzung und die erwünschten Qualitäten der künftigen Räumlichkeiten Ihren Erfahrungen nach in der Realität ab?
Meistens findet er nicht statt. Das Verständnis, von dem ich ausgehe, ist erst im Aufbau begriffen. Der Bedarf an Räumlichkeiten und Infrastruktur und die Bedürfnisse der Nutzer werden erst in Ausnahmen vor dem Bauen erhoben. So habe ich sehr lange gebraucht, bis ich in der Schweiz drei Tagesschulen gefunden habe, wo die Nutzer in die Raumplanung einbezogen wurden. Und bisher habe ich noch kein Beispiel einer Schweizer Schule gefunden, wo auch Kinder daran beteiligt wurden. In Workshops konnten wir zwar in Erfahrung bringen, dass sich die Bedürfnisse der Kinder nicht grundsätzlich von den Ideen der Fachpersonen unterscheiden, trotzdem können sie für die Architektur eine wertvolle Inspirationsquelle sein.
Können Sie anhand eines Beispiels aufzeigen, wie die Bedürfnisse in die Bauplanung einfliessen können?
Für den Bau der Tagesschule Heimberg (BE) forderten die Betreuungspersonen einen grossen, multifunktional unterteilten Betreuungsraum, in dem sie den Überblick behalten konnten. Zwischen dem Rückzugs- und dem Essraum wurde dann eine Glasscheibe eingefügt. So sind die Räume akustisch voneinander abgetrennt und gleichzeitig überblickbar. Das hätte das Architekturbüro nicht so gemacht, wenn die Nutzer dieses Bedürfnis nicht geäussert hätten.
Fordert der Bau von Tagessschulen ein grundsätzliches Umdenken, was die Architektur betrifft?
Nein. Schulbauten sollen immer den Bedürfnissen der Nutzer entsprechen und einen Lebensraum schaffen. Bei einer Tagesschule ist die Berücksichtigung der Bedürfnisse umso bedeutsamer, als sich die Kinder länger in der Schule aufhalten. Das bedeutet auch, dass ein Tagesschulbau den Bewegungsbedürfnissen von Kindern gerecht werden muss. Aussenräume müssen Gelegenheit für unterschiedliche Arten der Bewegung bieten. Statt glatten Flächen mit teuren Geräten sind naturähnliche, nivellierte Aussenräume geeignet. Waldähnliche Nischen bieten gute Betätigungs- und Rückzugsmöglichkeiten.
Zurück in die Innenräume: Wie schafft man Erholungs- und Rückzugsorte?
Kinder sollten ihre Aufenthaltsräume mitgestalten dürfen, damit sie sich mit ihrer Schule identifizieren, sich darin wohlfühlen und gut arbeiten können. Idealerweise verfügt ein Schulhaus über ein gestalterisches Reservoir, das die Kinder nutzen können. Mit verstellbaren Wänden können die Kinder beispielsweise selbst bestimmen, wo sie eine Leseecke machen oder wo es einen Raum geben soll, in dem man laut sein darf. Diese Flexibilität gibt es idealerweise auch in den Unterrichtsräumen.
Welchen Einfluss haben Räume überhaupt auf Lernende?
Innerhalb der Schule hat der Raum nach den Lehrpersonen und den Peers den stärksten Einfluss auf den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler. Dabei ist wichtig, wie dieser Raum genutzt und belebt wird, und das hängt wiederum vom Potenzial und der Flexibilität eines Raumes ab. Es gibt zu enge Räume oder solche, in denen nichts gestaltet werden kann, weil Änderungen technisch kaum möglich oder verboten sind.
Ist ein Neubau immer die beste Lösung oder können bestehende Räumlichkeiten einfach umgebaut und ergänzt werden?
Es gibt günstigere und weniger günstige Ausgangslagen, aber prinzipiell kann man auch sehr gut mit bestehenden Räumlichkeiten arbeiten. Neubauten sind nicht per se die beste Lösung, manchmal bringt gerade Raumknappheit die besseren Konzepte hervor. In Basel beispielsweise war die Raumsituation einer Schule so verzwickt, dass wir für einen Mittagstisch für eine Zwischennutzung auf ein ehemaliges Gefängnis auswichen. Ich hatte sehr grosse Bedenken, doch die Kinder und Eltern waren begeistert von diesem Mittags- und Aufenthaltsort, der auch ein Abenteuerort wurde. Ein externer Mittagsort hat auch den Vorteil, dass die Kinder nicht den ganzen Tag in der Schule verbringen. Auch in der Stadt Zürich gibt
es bestimmt geeignete Raumressourcen ausserhalb der Schulen. Bei dieser Suche muss man kreativ, aber auch vorsichtig sein. Zu grosse, hallende Räume sind beispielsweise nicht geeignet für die Mittagsbetreuung.
Nicht nur räumlich, sondern auch finanziell sind Grenzen gesetzt. Welche Rolle spielt das Budget bei einem Neu- oder Umbau einer
Tagesschule?
Aus meinem europäischen Erfahrungsraum können sich hinter den Herausforderungen, die durch Raumund Budgetknappheiten entstehen, auch enorme Chancen verbergen. Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen: Dort, wo wenig Geld zur Verfügung steht, ist mehr Kreativität gefragt. Wer sehr auf die Kosten achten muss, überlegt doppelt, was gebaut oder wie umgebaut wird. In Berlin habe ich ausserordentlich kreative, flexibel und nutzungsorientiert umgebaute Schulbetriebe besucht. Das andere Extrem war Luxembourg: Schulen sind luxuriös gebaut, es hat zu viele Räume und diese sind oftmals unpersönlich fad. Trotz oder vielleicht wegen grosszügiger Budgets konnte sich keine Atmosphäre entwickeln. Die Schweiz ist also möglicherweise in einer günstigen Entwicklungsperspektive, weil man heute auch aufs Geld achten muss.