Kritik der Kindheit

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Gustav Wyneken (1875–1964) hat als sogenannter Reformpädagoge einen berühmt-berüchtigten Ruf erlangt. Seine Ideen zielten auf eine Neubestimmung des Verhältnisses von Lehrer und Schüler. Kameradschaft und Führertum waren Leitbegriffe seines pädagogischen Konzepts. In der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, die er gegründet hatte, war die musisch-künstlerische Erziehung ein Schwerpunkt. Er führte das Fach Sexualpädagogik ein. Er kämpfte für die Rechte der Jugend und kreierte den Begriff Jugendkultur. Damit wurde er zu einem Vorbild für die Jugendbewegungen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts.
Petra Moser und Martin Jürgens haben den autobiographischen Text Wynekens sorgfältig ediert und mit einem anspruchsvollen Essay kommentiert. Das Vorwort stammt von Jürgen Oelkers, dem wir auch sonst kritische Einblicke in das Zwielicht der sog. Reformpädagogik zu verdanken haben. Man kommt ins Grübeln, ob der eitlen, narzisstischen Auseinandersetzung Wynekens mit seinem Leben. Gewisse sprachliche Girlanden mögen manchmal beeindrucken, bei genauerem Hinsehen sind sie aber falsch aufgehängt. Wir sind unangenehm berührt, weil der Autor nicht zu einer echten Einsicht kommt, weil ihm jedes Einfühlungsvermögen fehlt. Liest man zusätzlich Wynekens Aufsatz «Eros», in dem er sich quasi-philosophisch verteidigt, nachdem er wegen eines sexuellen Übergriffs mit zwei Knaben verurteilt worden war, ist man ob seiner Rechtfertigung von sexualisierten Handlungen mit Knaben entsetzt. «Umarmung und Kuss einer stillen und schönen Stunde» – das gehört nach seiner Auffassung mit zur schulischen Pädagogik.
Gewiss, Berührungen sind eigentlich ein selbstverständliches Element eines pädagogischen Verhältnisses. Aber nicht körperliche Zudringlichkeit. Pädagogischer Eros wäre die in gebührender Distanz gewährte emotionale Zuwendung zum Kind, das diesem ermöglicht, Vertrauen zu fassen zur Lehrperson und die Bereitschaft zu entwickeln, sich auf das Abenteuer des Lernens einzulassen.

Gustav Wyneken. Kritik der Kindheit: Eine Apologie des ‹pädagogischen Eros›. Herausgegeben und kommentiert von Petra Moser und Martin Jürgens. Mit einem Vorwort von Jürgen Oelkers. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 2015. 96 Seiten.