Die Oberstufe Schmittenwis in Niederweningen startete mit dem Konzept «Sek 2015» ins neue Schuljahr. Sie setzt auf gemischte A/B-Stammklassen und individuelles Lernen. Leistungsfächer werden in leistungsorientierten Gruppen unterrichtet. Zentral ist auch das Coaching. Auf Schulbesuch in der ersten Sek.
Niederweningen ist ein fast 3000-Seelen-Dorf am westlichen Ende des Wehntals im Bezirk Dielsdorf. Die Umgebung ist ländlich-idyllisch, die typische Schweizer Einfamilienhausarchitektur prägt das Bild. Die Einwohner wählen mehrheitlich bürgerlich. Nur ein paar Schritte trennen das Areal des Oberstufenschulhauses Schmittenwis vom eingleisigen Bahnhof. Die Sekundarschule führt aktuell neun Klassen mit je bis zu 22 Schülerinnen und Schülern. Die meisten sind laut Schulleiter Hanspeter Ogi Mittelstandskinder aus bildungsnahem Elternhaus. Kinder mit Migrationshintergrund gibt es verhältnismässig wenige.
Nach den Sommerferien ist die Schule mit dem Konzept «Sek 2015» nicht nur ins neue Schuljahr, sondern in die Zukunft aufgebrochen, nachdem eine drei Jahre dauernde Pilotphase erfolgreich zu Ende gegangen war. Sek 2015 bedeutet, dass nur noch kombinierte A/B-Stammklassen geführt werden und es in den Fächern Mathematik, Französisch und Englisch Leistungsgruppen gibt. Weitere wichtige Bestandteile sind die individuellen Lernstunden und das Coaching. Laut Schulwebsite wird mit dem Konzept ein besseres Lernumfeld für schwächere Schüler geschaffen, ohne dass es zu einer Leistungseinbusse der stärkeren Schüler kommt. Die Jugendlichen können entsprechend ihren Bedürfnissen gefördert werden.
Dieses Lernkonzept klingt vielversprechend. Wie ein solcher Unterricht konkret aussieht, zeigt die Sekundarlehrerin Lea Fisler. Für «Akzente» hat sie die Türe ihres Schulzimmers für zwei Lektionen geöffnet. Das Geschlechterverhältnis bei den 21 Schülerinnen und Schülern dieser 1. Sek ist ausgewogen. Auf dem Stundenplan steht Deutsch, das niveaudurchmischt unterrichtet wird. Die Lehrerin eröffnet die Lektion, blickt inhaltlich kurz zurück, erklärt Ablauf und Ziele. Dann verteilt sie Zettel und gibt den Auftrag, das persönliche Buch, das sie lesen mussten, einander im Turnus in Gruppen zu präsentieren. Herrschte vorher stille Aufmerksamkeit, wird es jetzt unruhig im Zimmer. Bänke werden verrückt, die Schülerinnen und Schüler gruppieren sich in den Ecken. Jedes Kind hat einige Minuten Zeit für die Buchpräsentation. Die Lektion ist schnell vorbei. Bis hierhin war es ein gut rhythmisierter Frontalunterricht mit Gruppenarbeit, wie man ihn praktisch in jedem Schulzimmer antrifft.
Im «IL» herrscht Ruhe
Das Besondere am Konzept offenbart sich nach der kurzen Pause. Denn jetzt heisst es «Individuelles Lernen», kurz IL genannt. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich in zehn von total 38 Wochenlektionen individuell mit Aufträgen aus dem Unterricht auseinander. Darunter fallen auch die Hausaufgaben, für die vier Wochenlek-
tionen reserviert sind. Damit sind diese meist schon in der Schule erledigt. Die IL finden im Nebenraum statt, der aus lauter Arbeitsplätzen mit Trennwänden besteht. Es sieht ein bisschen aus wie in einem Callcenter. Jedes Kind hat seinen persönlichen Arbeitsplatz mit Büchern, Heften, Schulmaterial. Mit Hilfe des Semesterbuches plant, arbeitet und reflektiert es selbstständig. Hier muss wie in einer Unibibliothek Ruhe herrschen. Ziel ist ein ruhiges, konzentriertes und motiviertes Arbeiten. Logisch, dass ein solches Setting Schüler zu Blödeleien wie Grimassenschneiden reizen kann. Damit dies möglichst nicht passiert, sind rund zehn Verhaltensregeln gut sichtbar aufgehängt. Eine Art Bonus-/Malus-System ahndet Verstösse bzw. belohnt konzentriertes Arbeiten.
Und dann ist da auch noch Fachlehrerin Rosemary Streicher, die wie jede Fachlehrperson an der Schule Schmittenwis die IL-Aufsicht im Turnus übernimmt. Dabei unterstützt sie die Schülerinnen und Schüler bei ihren individuellen Fragen und Aufgabenstellungen. Bereits fünf Minuten nach Lektionsbeginn ist es mucksmäuschenstill im Raum. Und das bleibt so bis zum Ende der Stunde. Während die Fachlehrerin zirkuliert und Aufträge kontrolliert, schlüpft Lea Fisler nebenan im Klassenzimmer in die Rolle des Coachs. Alle zwei Wochen bekommt ein Kind die Gelegenheit zu einem zehnminütigen, persönlichen Gespräch mit ihr. A-Schülerin Valeria setzt sich ans Pult der Lehrerin, die Türe zum IL-Raum bleibt offen. Lea Fisler will im Flüsterton wissen, wie es dem Mädchen geht, was ihr in letzter Zeit gelungen ist, was weniger. Die Schülerin berichtet offen von einem Problem und einem Erfolg in Mathe. Die Lehrerin paraphrasiert, hakt nach, ermutigt, lobt, regt Massnahmen an, gibt Tipps: «Sei ehrlich mit dir selber. Frage nach, wenn du Aufträge nicht verstehst und nutze die IL-Zeit.» Im Semesterbuch notiert Valeria ein neues Ziel, an dem sie im IL arbeiten wird. Es ist offensichtlich: Das persönliche, regelmässige Coaching erlaubt der Lehrerin, mit jedem einzelnen Schüler eine Beziehung aufzubauen, ihn individuell zu begleiten, von Sorgen, aber auch von Erfolgen bei anderen Lehrpersonen zu erfahren. «Die Planung und Auswertung der individuellen Lernprozesse fördert die Entwicklung von persönlicheren Lernwegen», ist Lea Fisler überzeugt.
Beim Volksschulamt angeklopft
Die Fächer Mathematik, Französisch und Englisch werden in leistungsorientierten Gruppen in den Niveaus I bis III unterrichtet. A- und B-Schüler der gleichen Leistungsgruppe besuchen den Unterricht gemeinsam. C-Schüler gibt es keine. Schulleiter Hanspeter Ogi, einst selber C-Lehrer und seit 19 Jahren Leiter dieser Schule, sagt: «Wir tragen mit unserer Struktur dazu bei, niemanden zu stigmatisieren. Wir haben die Verantwortung, alle möglichst optimal zu fördern.»
Die Umsetzung des Konzeptes «Sek 2015» ist nicht allein auf das erfolgreiche Pilotprojekt zurückzuführen, sondern historisch gewachsen. Eine Art Vorläufer sei der abteilungsübergreifende Versuch an der Oberstufe (AVO) in den 1980er-Jahren gewesen. «Wir waren die dritte Gemeinde im Kanton Zürich, an der Niveauklassen überhaupt mal ein Thema waren», erinnert sich Hanspeter Ogi. «Wir mussten gegen vehemente Widerstände kämpfen, vor allem seitens der kantonalen Lehrerschaft.» Später, in den Nullerjahren, kam die gegliederte Sekundarschule. «Wegen Sparmassnahmen verschlechterten sich dann aber die Rahmenbedingungen.» Grosse Klassen oder die Zusammenlegung von Fächern waren die Folge. Ogi und sein Schulteam wollten aber keine Rückschritte hinnehmen, sondern strebten eine Weiterentwicklung an. So nahmen sie das Heft selber in die Hand, wurden beim Volksschulamt vorstellig und loteten ihren Spielraum für eine Neugestaltung der Sekundarschule aus. Im Vordergrund stand das individualisierte Lernen, das die Schüler nicht nur fachlich fit macht, sondern sie ebenso in ihrer Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit fördern sollte.
In Niederweningen herrscht ein grosser Überhang an A-Schülern. «Angesichts unseres sozialen Umfelds bin ich ein Verfechter der kombinierten Klassen», sagt Hanspeter Ogi. B-Schüler würden sich tendenziell an den leistungsstärkeren A-Schülern orientieren und seien seinen Erfahrungen nach nicht stigmatisiert. Dies würden Stellwerktests der letzten Jahre belegen. An die Lehrpersonen stellt die Sek 2015 bestimmte Anforderungen. Um in diesem System optimal unterrichten zu können, sei es wichtig, dass die Pädagogen potenzialorientiert denken, beziehungs- und diagnosefähig seien und eine positive Grundhaltung einnehmen würden. «Und diese ist extrem stark bei uns», freut sich der Schulleiter. Klassenlehrerin Lea Fisler findet, dass an die Kommunikationsfähigkeit hohe Ansprüche gestellt werden. Ein weiteres wichtiges Puzzleteil im grossen Bild sei die pädagogische Vielfalt. Ogi spricht gern von «Mischwald»: «Die Lehrperson muss wissen, welche Unterrichtsform wann angebracht ist.»
Und die Eltern? Stehen auch sie hinter diesem Konzept? «Anfänglich gab es Ängste der A-Eltern», räumt Ogi ein. Doch inzwischen seien deren Zweifel verflogen, auch dank Einbezug und Information. Weil die Schüler die Hausaufgaben grösstenteils in den individuellen Lernstunden lösen, haben die Eltern darüber kaum Kontrolle. «Das setzt Vertrauen voraus.» An den Elternabenden der 6.-Klässler gab es praktisch nur positive Stimmen. Doch wie jedes System zeitigt auch dieses gewisse Schwächen. «Weil es einen hohen Strukturierungsgrad aufweist, braucht es extrem flexible Leute», macht Ogi ein Beispiel. Die Organisation sei störungsanfällig. Er geht sogar so weit zu sagen: «Machen es die Lehrpersonen nicht gut, zweifle ich an der Wirksamkeit.» Weiter sei Individualisierung und selbstgesteuertes Lernen nicht einfach per se besser. «Je nachdem, was der Unterricht bewirken soll und wie man die Schüler fördern will, hat Frontalunterricht sehr wohl seine Berechtigung», relativiert der Schulleiter. Sein Fazit: Das Schmittenwiser Konzept lasse sich nicht auf jede Oberstufenschule übertragen.
Coaching spricht Schüler persönlich an
In Niederweningen ist es akzeptiert und wird gelebt. «Nun ist innere Entwicklung angesagt, jetzt fängt die eigentliche Knochenarbeit an», sagt Hanspeter Ogi. Wie gut die Oberstufenschule ihre Aufgabe macht bzw. das Konzept umsetzt, wird auch die externe Schulevaluation zeigen, welche dieses Jahr anläuft.
Dies alles kümmert Silvano wenig. Der B-Schüler ist jetzt bei Lea Fisler im Coaching. In einfachen Worten fasst der 12-Jährige die Stärken der «Sek 2015» zusammen. «Ich finde es im Coaching sehr angenehm mit der Lehrerin. Sie stellt gute Fragen, und ich fühle mich persönlich angesprochen.» An den individuellen Lernstunden schätzt er, dass er konzentriert arbeiten kann. Weil er in den Leistungsfächern in der für ihn richtigen Stufe eingeteilt ist, weiss er, dass er mit Tempo und Anforderungen mithalten kann. Das nimmt ihm Druck weg: «Ich muss keine Angst haben, nicht mitzukommen. Ich lerne einfach besser, weiss aber nicht wieso.»