Was ist gutes Lernen? Diese Frage stellt sich in der Schule immer wieder – sowohl den Lehrpersonen als auch den Lernenden. Wird jedoch nach der einen besten Lernform gesucht,  kann dies kontraproduktiv sein.  Fachleute der PH Zürich plädieren insbesondere für Gelassenheit gegenüber individuellen Lernprozessen.
Die Psychologie und die Biologie, die Pädagogik und die Anthropologie, die Ethnologie und die Learning Sciences ‒ sie alle und viele mehr beschäftigen sich mit dem Phänomen des Lernens. Eine Definitionsinstanz für den Begriff «Lernen» fehlt indes: Ist Lernen das Aneignen von Wissen? Ist es das Erlangen von Fähigkeiten, das Verarbeiten von Informationen oder die Änderung des Verhaltens aufgrund von Erfahrung? Oder ist Lernen schlicht die wachsende Fähigkeit zur Partizipation? «Lernen ist ein Konstrukt», lautet Christoph Schmids Antwort. Der Dozent im Bereich Bildung und Erziehung der PH Zürich hütet sich, «Lernen» auf eine einfache Definition zu reduzieren. Zu verschiedenartig und zu zahlreich seien die Lernphänomene. Definiert man das Lernen zu eng, so werden wichtige Phänomene ausgegrenzt, versucht man nichts auszugrenzen, so wird die Definition blutleer.
Auch eine simple Klassifizierung der Lernformen und die Frage, ob Überlegen besser als Üben, informelles besser als formelles oder explizites besser als implizites Lernen ist, führt nirgends hin, will man den facettenreichen Lernphänomenen auf den Grund gehen und produktives Lernen besser verstehen. Schmid rät deshalb von verallgemeinernden Aussagen ab. Wichtig sei das vorurteilslose Nachdenken über gutes Lernen und dass zumindest Klarheit darüber herrsche, dass jeweils der Erwerb von Verständnis, Fertigkeiten oder Einstellungen im Zentrum stehe, so Schmid.
Kein Lernen um des Lernens willen
Zum guten Lernen gehören auch die Fragen: «Weshalb mache ich das eigentlich?» und «Macht das überhaupt Sinn?». Ritualisierte Lernarrangements, die nicht hinterfragt werden, bezeichnet Schmid daher als wenig förderlich. Rituale kämen zwar dem Kontrollbedürfnis der Lehrperson entgegen, doch besser wären gemeinsam ausgehandelte, begründete Konventionen. Denn die kritische Reflexion ist nicht nur Aufgabe der Lehrperson, sondern auch der Lernenden selbst. «Metakognitive Fähigkeiten sind ein wichtiger Faktor für selbständiges Lernen», erklärt Schmid. Zu diesen gehören unter anderem das Planen, die realistische Zielsetzung, das Wissen um individuell geeignete Lernstrategien, aber auch ein gutes Anstrengungsmanagement und das Wissen um motivationale Effekte. Will man gute Bedingungen für das Lernen schaffen, sollte man wissen, wodurch man motiviert wird. Eine forcierte Outputorientierung ohne Fehlertoleranz und der konstante Vergleich mit Mitlernenden bezeichnet Schmid dabei als wenig förderlich. «Will jemand nur besser abschneiden als andere, läuft er Gefahr, immerfort das zu tun, was er schon gut kann», erklärt er. Wissen, wann man den Konkurrenzkampf ausblenden muss, welche Abfolge beim Lernen für einen Sinn macht und welche Ressourcen man überhaupt zur Verfügung hat, sind einerseits Bedingungen des produktiven Lernens, andererseits lernt man das Lernen erst beim Lernen selbst.
Das Lernen hat heute Hochkonjunktur, was sich etwa in den omnipräsenten Werbeplakaten für Aus- und Weiterbildungen zeigt. Da gilt es das Nachdenken darüber selbst ebenso kritisch zu betrachten. Wollen wir das Lernen nämlich zu sehr optimieren und leuchten sämtliche Lebensbereiche auf potenzielle Lerngelegenheiten aus, schaffen wir möglicherweise gerade schlechtere Bedingungen dafür. Das starke Nützlichkeitsdenken in breiten Kreisen der Gesellschaft bezeichnet Schmid als zuweilen hinderlich beim Lernen. Als Beispiel zieht er das Reisen um des Lernens willen bei: «Es ist bekannt, dass wir beim Reisen viel lernen können, was wir gar nicht erwartet haben. Wenn wir aber eine Reise mit der Absicht antreten, etwas zu lernen, dann klappt das mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht.» Das informelle Lernen, hinter dem weder ein Lernimperativ noch eine Lernintention steht, könnte man demnach mit Vexierbildern vergleichen; sucht man zu angestrengt nach dem Bild, zeigt sich dieses bestimmt nicht.
«Das meiste in unserem Leben lernen wir informell», sagt Schmid. So konnte eine Studie aus den USA aufzeigen, dass bis zum College-Eintritt über 80 Prozent der Wachzeit für informelles Lernen zur Verfügung steht. Das Ausprobieren ohne Lernabsicht und Aussicht auf ein Zertifikat ist also äusserst wichtig. «Rumhängen ist diesbezüglich nicht zu unterschätzen», sagt Schmid ohne Ironie. Jugendliche lernen dabei beispielsweise sehr viel über soziale Interaktion, Autonomie oder Sprachen, und plötzlich taucht da eine Begeisterung für Sport auf, es wird stundenlang geskatet und dabei werden Gefahren ausgelotet. «Zudem geschieht informelles Lernen jeweils just in time», so Schmid. Er möchte das formale Lernen nicht abwerten, mahnt aber davor, Lernende als Lernobjekte zu betrachten, die nach einem von aussen vorgegebenen Zeitplan funktionieren. Auch verlaufe der Lernprozess nicht wie eine Himmelsleiter stetig aufwärts. Vielmehr kann es beim Lernen auf und ab gehen. Schmid rät daher zu Gelassenheit, denn «Lernen braucht Zeit».
Mut zur Planänderung
So wie die Lernenden sich im Lernprozess beobachten sollten, gilt es auch für die Lehrperson immer wieder eine Beobachterperspektive einzunehmen und den Unterricht auf tatsächliche Lernprozesse zu überprüfen. Sind die Schülerinnen und Schüler nur beschäftigt oder setzen sie sich wirklich mit dem Thema auseinander? Für Regula von Felten, Leiterin des Fachbereichs Pädagogische Psychologie, ist diese Frage entscheidend. Dass das blosse Erledigen von Aufgaben kein wirkliches Lernen ist, mag simpel erscheinen. Doch von Felten zeigt auf, inwiefern erweiterte Lehr- und Lernformen, die individualisiertes und selbständiges Lernen fördern sollen, einem Abarbeiten nicht zwingend entgegenwirken. «Wenn man den Kindern Wochenpläne verteilt, die sie nach eigener Einteilung erledigen können, dann ist das eine merkwürdige Form von Selbstbestimmung», so von Felten. Vorgegebene Aufgaben auf einem Wochenplan könnten genauso zu einem Lernen im Sinne eines Abhakens verleiten wie das altbekannte Arbeitsblatt, das bis zum Ende der Stunde gelöst werden muss. «Produktives Lernen wird möglich, wenn sich Schülerinnen und Schüler in eine Sache vertiefen», erklärt von Felten. Lernangebote sollten also situativ an den Verlauf des Unterrichts und die Bedürfnisse der Lernenden angepasst werden. Dies konnte etwa eine Studie zeigen, für die eine Klasse, die nach im Voraus erstellten Tagesplänen unterrichtet wurde, mit einer Klasse verglichen wurde, in der sich der Tagesplan jeweils nach dem Stand des vorherigen Tages richtete. Im zweiten Fall waren die Kinder stärker am Unterricht interessiert.
Auch das Überangebot an Unterrichtsmaterial, das moderne Lehrmittel für einen differenzierten Unterricht anbieten, ist für von Felten noch kein Garant für motiviertes Lernen. «Es braucht diagnostische Kompetenz und didaktisches Geschick, das Material so einzusetzen, dass es individuelle Förderung auch wirklich ermöglicht», so von Felten. «Vieles kommt nach wie vor sehr ‹papierig› daher», umschreibt sie Lerninhalte, die für die Lernenden viel Schul-, aber wenig Lebensbezug haben. Weil das Interesse an den Lerninhalten massgebend für Lernfortschritte ist, sind lebensnahe Inhalte und vielfältige Handlungsmöglichkeiten integraler Teil eines guten Unterrichts. Die Interessen der Kinder und Jugendlichen aufzuspüren und die Fülle und Breite der Themen in allen Fächern so umzusetzen, dass die Neugierde geweckt werde, bezeichnet von Felten als äusserst anspruchsvolle Aufgabe. Die Vorstellung, dass Lernen immer nur lustvoll ist und die Schule bei allen Kindern Begeisterung auslöst, weist sie jedoch als romantisch zurück: «Das Erlernen von Kulturtechniken wie Schreiben ist anstrengend und braucht Durchhaltewillen.» Widerstand beim Lernen ist demnach völlig normal. Wo eine Aufgabe aber schlicht zu keiner Auseinandersetzung führt und keinen Lernprozess anstösst, gilt es als Lehrperson zu reagieren und die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass gutes Lernen stattfinden kann.
Ein motivierendes Lernklima entsteht, wenn Schülerinnen und Schüler ihre Interessen, Erfahrungen und ihr Vorwissen in den Unterricht einbringen und selber aktiv sein können. Dafür braucht es viel Einfühlungsvermögen. «Unterricht sollte heissen, mit den Kindern den Tag zu gestalten und nicht, ein geplantes Programm durchzubringen. Gerade unerfahrene Lehrpersonen stehen aber oftmals unter grossem Druck, weil sie wollen, dass die Lektion reibungslos abläuft», erzählt von Felten aus ihrer Erfahrung als Mentorin von Studierenden der PH Zürich. Auf unerwartetes Verhalten der Klasse geschickt zu reagieren und die jeweils passende Lernstrategie zu finden, hat mit Intuition, aber auch mit Erfahrung zu tun. Je breiter das Handlungsrepertoire einer Lehrperson, desto freier kann sie reagieren. Durch die Erfahrung spüre man besser, wo man einmal dranbleiben müsse, wenn etwas laufe. «Manchmal braucht ein Kind einfach seine Zeit. Wenn man dauernd unterbricht und das Nächste verlangt, kommt der Lernprozess gar nie in Gang», so von Felten.
Kinder unterschiedliche Lernwege gehen lassen, die Lektionengrenzen einmal durchbrechen und das Thema weiterführen, wenn ein anderes Fach anstünde, oder eine Gruppe ein Spiel einmal über die Pause hinaus weiterspielen lassen, wenn dort Kooperation und Konzentration gefördert werden, kann sinnvoll sein, braucht aber Mut. Denn die Erwartungen an den Unterricht sind hoch, die Lehrperson muss ihr Tun auch den besorgten Eltern gegenüber legitimieren.
Ein Langzeitprojekt
Die hohen Erwartungen der Eltern und der damit verbundene Druck sind auch Denise Da Rin bekannt. «Die Eltern wollen Lernerfolge sehen», sagt die Weiterbildungs-Bereichsleiterin «Unterricht und Lernen» an der PH Zürich. Daher sei es wichtig, dass man ihnen aufzeige, worauf ihr Kind hinarbeite. «Wenn man die Lernziele gemeinsam bespricht, gibt das Sicherheit und Vertrauen. Dies braucht das Kind unbedingt zum Lernen», sagt Da Rin. Statt auf schnelle Resultate hinzuarbeiten, gilt es den Blick auf das Ganze zu richten und Entwicklungen längerfristig zu verfolgen. Gerade für unerfahrene Lehrpersonen ist das oftmals nicht einfach. «Für eine gute Langzeitplanung muss man die Feinzielplanung erst einmal durchgespielt haben», sagt Da Rin. «Meist bringt man die nötige Geduld und Gelassenheit den individuellen Lernprozessen gegenüber erst mit etwas Erfahrung auf.» Hat eine Lehrperson schon zig Mal erlebt, wie eine Blockade überwunden wurde, wird sie mit grosser Wahrscheinlichkeit weniger nervös, wenn ein Kind einmal nicht mehr vorwärts kommt.
In der Ausbildung an der PH Zürich sollen die Studierenden daher von der Vorstellung eines reibungslosen Unterrichts weggebracht werden. Das Lernen selbst und das Lernen zu lernen wird während des gesamten Studiums immer wieder aufgegriffen, spezifisch thematisiert wird es zunächst in einer Grundlagenvorlesung zum Thema Lernen. Das vermittelte theoretische Wissen, etwa zu verschiedenen Sichtweisen wie Behaviorismus und Kognitivismus oder zu Motivation und Emotion dient als Grundlage für die spätere Praxis. Wenn ein Kind mit einem schwachen Selbstbewusstsein Lernschwierigkeiten aufweist, kann beispielsweise das Wissen über verschiedene Attributionsmuster wichtige Hinweise geben. Für einen möglichst flexiblen Unterricht wird zudem in den einzelnen Fächern und in einem praxisbezogenen Modul eine grosse Palette an Lernstrategien erarbeitet. Diese werden von den Studierenden selbst ausprobiert und gemeinsam besprochen. Später im Unterricht werden Lernstrategien idealerweise im Austausch mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet. So wird nicht nur das Bewusstsein für individuell geeignete Lernstrategien gefördert, oftmals weisen die Ideen der Lernenden selbst neue, passendere Wege.
Laut Da Rin soll der Austausch über Lernformen und -strategien auch im Lehrpersonenteam stattfinden. Die PH Zürich bietet in Weiterbildungskursen Unterstützung beim Austausch über geeignete Lernsettings. Gerade wo mit neuen Lernformen wie Lernlandschaften experimentiert wird, ist ein gemeinsames Verständnis, was gutes Lernen ist, wichtig. «Dabei geht es keineswegs darum, dass man sich auf eine Lernform einigt, sondern dass alle am gleichen Strick ziehen», so Da Rin. Der Austausch und die Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen ist in vieler Hinsicht wichtig: Da der Unterricht stark von der eigenen Lernerfahrung geprägt ist, fällt man ohne gegenseitige Unterstützung schnell in alte Muster zurück. Zudem kann der Austausch helfen, wenn der Lernprozess bei einem Kind stockt und eine Lehrperson nicht mehr weiter weiss. Andere Lehrpersonen können in diesem Fall nicht nur mit konkreten Handlungstipps helfen, sondern mit den Beobachtungen aus ihrem eigenen Unterricht. Je mehr Informationen die Lehrperson hat, desto eher kann ein Weg gefunden werden, um den Lernprozess besser zu unterstützen. Da Rin bezeichnet das Schaffen idealer Lernbedingungen deshalb als Detektivarbeit. Und gemeinsam ist man bei der Suche nach dem erfolgreichen Lernen am erfolgreichsten.
One thought on “Gutes Lernen hat viele Facetten”
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