Bestimmt sind Sie sich bewusst, was Sie beiläufig tun, wenn Sie beispielsweise jemandem helfen, seinen platten Veloreifen zu reparieren, wenn Sie keine Gerüchte streuen oder den Nachwuchs des lokalen Sportvereins trainieren? Genau, Sie pflegen und vermehren Ihr Sozialkapital. Dieser Begriff steht für den Wert sozialer Beziehungen und deren produktive Nutzung. Ein hohes Sozialkapital kann einem auf der Wohnungs- oder Jobsuche helfen, eine Krankheitsphase durch Besuche erträglicher werden lassen oder für die nötigen Stimmen beim Sprung auf die politische Bühne sorgen. Soziales Kapital stellt also neben dem physischen Kapital (z.B. Geld) und dem Humankapital (z.B. Fachwissen) eine dritte Vermögensart dar.
Gemäss aktuellem Forschungsstand soll uns Sozialkapital gescheiter, gesünder, sicherer, reicher und eine Demokratie gerechter und stabiler machen. Sozialkapital könnte also als Kitt unserer Gesellschaft betrachtet werden. Mit einem spezifischen Blick auf die Schweiz hat der Soziologe Markus Freitag in verschiedenen Studien das Sozialkapital untersucht und die Befunde kürzlich im Verlag der NZZ unter dem Titel Das soziale Kapital der Schweiz veröffentlicht. Die gute Nachricht vorab: Im internationalen Vergleich reiht sich die Schweiz im oberen Mittelfeld der westlichen Industrienationen ein. Zwar bröckelt der gesellschaftliche Kitt auch hierzulande, aber von einem generellen Niedergang des sozialen Miteinanders kann keinesfalls die Rede sein.
Eine Randnotiz im Buch von Freitag bereitet dem aufgeschlossenen, urbanen Leser jedoch Kopfzerbrechen. Es handelt sich um ein Ranking, das der Forscher mit Rücksicht auf den zeitgenössischen Durst danach erstellt hat. Es besagt, dass in den ländlichen, religiös-konservativen Kantonen das Sozialkapital am höchsten sei: Unterwalden, Appenzell-Innerrhoden, Uri und Glarus führen dieses Ranking an. Freitag verschweigt zwar nicht, dass dieser Befund «auf Bevölkerungsumfragen mit einer überschaubaren Anzahl Befragter» beruht und dass deshalb bei der Interpretation Vorsicht geboten ist. Aber der Stachel ist gesetzt. Ist es vielleicht doch so, dass dort, wo man sich noch Grüezi sagt, der Zusammenhalt zwischen den Menschen grösser und das Leben lebenswerter ist?
Niemand ist davor gefeit, sich von Zahlen und Tabellen verwirren zu lassen und sie in absolute Wahrheiten umzudeuten. Jüngst ist das Martin Beglinger in einem Artikel im Magazin des Tages-Anzeigers passiert. Mit Bezug zu Freitags Ranking zeichnet er eine ungetrübte Idylle eines Landlebens voller Sozialkapital und zementiert damit ein Weltbild, das in vielen Schweizer Köpfen präsent ist – nicht zuletzt auch bei Lehrpersonen, die gerne einmal mit etwas Wehmut von harmonischem Unterrichten in einer beschaulichen Landschule träumen.
Während aber die problematischen Seiten des Sozialkapitals auf dem Land, wie beispielsweise die soziale Kontrolle oder unverrückbare Rollenzuschreibungen, im realen Leben schnell zutage treten, ist die reduzierende Zuspitzung von methodisch unzulänglichen Analysen weitaus weniger gut erkennbar und dadurch problematischer.