Jeden Tag um 7 Uhr dasselbe Ritual: Sie weckte mich mit einem spassigen «Im Frühtau zu Berge» – und ich fauchte sie an. Wenn meine Mutter heute von dieser Szene berichtet, kann sie schmunzeln. Um präziser zu sein: Die feindselige Begrüssung zwischen meiner Mutter und mir fand nicht täglich statt, aber doch an den meisten Schultagen. Ich erinnere mich noch genau an den Kontrast, der zwischen dem frohen Erwachen an einem unterrichtsfreien Tag und der Beklemmung zu Beginn eines Schultages lag. Um 7 Uhr morgens stellten sich zwei Empfindungen zwingend ein: das Gefühl, man raube mir den Tag von Beginn weg, und die Gewissheit, ich sei der Einzige mit Startschwierigkeiten. Und es verwirrte mich immer von neuem, dass ausgerechnet meine Mutter mich aus dem warmen Nest zu vertreiben hatte.
Mein zwiespältiges Verhältnis zu Fremdbestimmung und organisierter Geselligkeit hielt mich lange davon ab, den Lehrberuf zu wählen. Zunächst nährte ich meine Bedenken zum schulischen Lernen mit Literatur zum «heimlichen Lehrplan». Dort fand ich bestätigt, was ich schon als Primarschüler intuitiv durchschaut hatte: Die Schule ist zwar durchaus ein betriebsamer Ort. Aber das Klassenzimmer ist ein ungünstiger Ort für kindgerechte Erfahrungen. Was Kinder dort in erster Linie erleben, ist das fremde Verfügen über ihre Zeit, ihre Bewegungen und ihre Interessen. Das tägliche Korsett des Stundenplans verlangt Geduld und Anpassung und steht selbstbestimmtem Lernen im Weg. Kurzum: Wer die Jugend versteht, müsste das Lernen vom organisatorischen Ballast des Schulbetriebs befreien. Ivan Illich skizzierte den Weg dorthin in seinem Pamphlet «Entschulung der Gesellschaft»: Die Kinder sitzen in der Falle, weil sie ungefragt zum Schulbesuch verpflichtet sind, behauptete er. Der Ausweg daraus liege in der Aufhebung dieses Zwangs. Das war die Musik, die mich nach 13 Jahren Schule ansprach.
Heute sehe ich das radikal anders. Jeder Schultag ist eine Chance, zwanzig Kinder in den Austausch zu bringen – und eine Herausforderung, ihnen auch Ruhe und Musse zum Nachdenken zu verschaffen. Die Schulklasse kann ein vorzügliches Lernfeld sein. Als Lehrer habe ich die durchaus anstrengende Aufgabe, meine Klasse zu einem Ort der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Respekts wachsen zu lassen. Verstehen Sie mein Lob der Volksschule bitte nicht romantisch. Nicht immer sind deren Stärken manifest. Dahinter steckt beharrliche Arbeit der Lehrperson: hinter der Begeisterung beim gemeinsamen Musizieren, der feierlichen Spannung vor einer Theateraufführung, dem ansteckenden Eifer beim gemeinsamen Denksport.
Zusammen unterwegs – diese frohe Losung zum schulischen Lernen zeigt sich am augenfälligsten im Klassenlager. Mit Recht sehen viele darin die Königsdisziplin schulischer Gemeinschaft – und eine Zumutung für manche Beteiligte. Nie liegt die Begeisterung, zusammen die Welt zu entdecken, so nahe beim beklemmenden Wunsch, wieder nach Hause zu wollen. Ich erinnere mich an unseren Fünftklässler Pulavan, der aus dem Panoramawagen des Bernina-Express die Berge bestaunte und unvermittelt konstatierte: «Das ist der schönste Tag in meinem Leben.» Und am gleichen Tag wussten wir nicht, wie wir seinen Kollegen Luis in seinem haltlosen Heimweh trösten sollten. Beides konnte ich nachvollziehen. Als Primarschüler war ich immer halb Pulavan, halb Luis gewesen.
Glück und Heimweh am Berninapass
Mario Bernet ist Primarlehrer im Schulhaus Sihlfeld und Praxisdozent an der PH Zürich.