Mechtild Gomolla, Professorin für Erziehungswissenschaft, beschäftigt sich mit den institutionellen Ursachen von Bildungsungleichheit. Barrieren, durch welche bestimmte soziale Gruppen benachteiligt werden, sind auf allen Ebenen der Institution Schule zu finden, sagt sie.
Akzente: Sind die Ursachen von Bildungsungleichheiten in der Schule zu finden?
Gomolla: So lässt sich das nicht sagen. Die Schule bildet soziale Ungleichheiten weder einfach ab noch funktioniert sie bei deren Reproduktion ausschliesslich als Übersetzerin sozialer Machtverhältnisse. Heute lenken viele Studien im deutschsprachigen Raum den Blick hauptsächlich auf ausserschulische Ursachen von Bildungsungleichheiten. Der Anregungsgehalt in bestimmten sozialen Milieus und Bildungsentscheidungen von Eltern werden als primäre Ursachen von Bildungsungleichheiten genannt. Solche Studien lassen ausser Acht, dass familiale Ausgangsbedingungen keine statischen Grössen sind, sondern teilweise durch die Schule selbst bedingt sind. Bildungsentscheidungen der Eltern hängen zum Beispiel auch von der Kommunikation zwischen Lehrperson und Eltern ab.
Welche schulischen Mechanismen führen zu Ungleichheiten?
Eine wichtige Rolle spielen Erwartungseffekte. Lehrpersonen begegnen Mädchen und Jungen im naturwissenschaftlichen Unterricht mit anderen Erwartungen, Kindern mit Migrationshintergrund oder körperlicher Behinderung wird weniger zugetraut. Diese Erwartungshaltung der Lehrperson drückt sich in der Aufmerksamkeit aus, die dem Kind entgegengebracht wird, sowie im Anforderungsniveau des Lernangebots, der Platzierung im Unterricht oder der Kommunikation mit Eltern. Kinder nehmen zudem die Konfrontation mit Stereotypen sehr wohl wahr, was sich etwa durch verminderte Aufmerksamkeit für die Lernaufgaben oder niedrige eigene Erfolgserwartungen auf ihr Leistungsvermögen auswirkt.
Das Problem liegt also bei der Erwartungshaltung der Lehrpersonen?
Die Ursachen schulischer Diskriminierung sind nicht allein beim Individuum, sondern vielleicht sogar in erster Linie im institutionellen Setting zu suchen. Die Erwartungshaltung schlägt den Kindern und Jugendlichen auch durch die Schulstrukturen entgegen, etwa im weniger anregenden Lernmilieu einer Sonderschule. Schulische Diskriminierungen entstehen oft auch auf Ebene der Schulpolitik und -organisation. Zum Beispiel werden ausgrenzende Praktiken im Umgang mit fremdsprachigen Kindern strukturell gefördert, solange die Schule nicht als zentraler Ort, an dem Kinder die für den Schulerfolg nötigen sprachlichen Kompetenzen erwerben können, ausgestaltet ist. Zudem gilt es zu bedenken, dass die Lehrperson Teil der Institution Schule ist und ihr Verhalten zudem stark von ihrer Ausbildung abhängt. Der Ansatz der institutionellen Diskriminierung lenkt daher den Blick aufs Ganze.
Was meint «institutionelle Diskriminierung»?
Im Alltag und in den Medien wird Diskriminierung oft als Haltung von Individuen oder kleineren Gruppen aufgefasst. Der Begriff institutionelle Diskriminierung versucht, besser zu fassen, wie ein Grossteil von Diskriminierung in zentralen Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens zustande kommt und wie Handlungen und Haltungen der Akteure in diesen Einrichtungen durch die historisch gewachsenen Institutionen und professionelle Kulturen bis zu einem gewissen Grad vorstrukturiert sind. Beispielweise werden Kinder mit Migrationshintergrund mit mehrfach erhöhter Wahrscheinlichkeit auf Sonderschulen geschickt als einheimische Kinder. Solche statistisch feststellbaren Unterschiede des Schulerfolgs, die nicht auf den Einzelfall zurückgeführt werden können, bilden die Ausgangslage für die Frage: Wie werden diese Ungleichheiten durch Schulstrukturen und pädagogische Interaktionen hervorgebracht und reproduziert?
Die Frage geht an Sie …
Es gilt zu unterscheiden zwischen der direkten und der indirekten institutionellen Diskriminierung. Ein Beispiel für direkte Diskriminierung wäre, dass Kinder mit Flucht- oder Asylhintergrund von Gesetzes wegen nicht auf reguläre Weise in den Schulunterricht integriert werden. Ein anderes Beispiel aus einer Untersuchung: Ein Lehrer wollte Kinder mit Migrationshintergrund nicht normal an einer Prüfungslektion teilnehmen lassen, weil er Angst hatte, dass diese vermeintlichen «Problemkinder» seinen Unterricht stören könnten. Viel schwerer erkennbar ist die indirekte Benachteiligung bestimmter Gruppen durch grundsätzlich neutrale schulische Vorkehrungen. Die frühe Selektion nach der 6. Klasse wird für Kinder, die erst beim Eintritt in die Schule die Bildungssprache erlernen, zur Bildungshürde. Massgebende Entscheide für die weitere Schullaufbahn dürften zu diesem Zeitpunkt fairerweise nicht an Sprachkompetenzen gebunden sein. Denn aus der Spracherwerbs- und -entwicklungsforschung weiss man, dass Kinder fünf bis neun Jahre Zeit brauchen, um mit muttersprachlichen Gleichaltrigen mitzuhalten.
Wie können Lehrpersonen dieser indirekten Diskriminierung entgegenwirken?
Alleine durch die positive Haltung der einzelnen Lehrperson bezüglich Migration und Heterogenität kann das Problem nicht gelöst werden. Ungleiche Bildungschancen entstehen oft in der Verkettung verschiedener Entscheidungen entlang der Schullaufbahn eines Kindes, die von der einzelnen Lehrperson gar nicht überblickt werden können. Eine wohlwollende Handlung wie das Zurückstellen bei der Einschulung zugunsten einer intensiven Sprachförderung kann diskriminierende Wirkung entfalten, wenn bereits das ältere Kind bei der Einschulung als «Problemkind» wahrgenommen wird.
Auf welcher Ebene gilt es demnach anzusetzen?
Es braucht gut koordinierte Verbesserungen auf sämtlichen Ebenen. Wir brauchen ein sinnvolles Bildungsmonitoring, um solche Hürden im Schulsystem oder der Organisation einzelner Schulen erst zu identifizieren und in einem weiteren Schritt aufzuheben. Wie dieses aussehen wird, ist etwa in Deutschland noch unklar. Es geht vor allem darum, aus Daten zum Schulerfolg und zur Lern- und Leistungsentwicklung von Schülerinnen, Schülern und Schülergruppen sowie aus Untersuchungen über Diskriminierung in Schulen Rückschlüsse für den eigenen Unterricht und die Schulentwicklung zu machen. Zudem müssen Lehrkräfte auf versteckte Diskriminierung sensibilisiert werden und erkennen lernen, in welchen Situationen gewisse Gruppen im Schulalltag besonders behandelt oder gar ausgegrenzt werden. Auch für externe Evaluationen von Schulen im Sinne qualitativer Begutachtungen, wie sie in einigen Schweizer Kantonen ja ähnlich wie in Deutschland als Schulinspektionen erprobt werden, sollte man konsequenterweise Kriterien bezüglich Differenzierung und Diskriminierung aufnehmen.
Wie gelingt dieser Umbruch und was steht diesem allenfalls im Weg?
Diskriminierung ist immer noch ein Tabu, doch damit leistet man einer sinnlosen individuellen Schuldzuweisung Vorschub. Einerseits wird den Eltern die Schuld für schulisches Versagen ihrer Kinder zugeschoben. Andererseits interpretieren Lehrpersonen sichtbare Ungleichheiten in der Klasse als eigenes Versagen. Statt Sündenböcke zu suchen, gilt es, gemeinsame Wege gegen institutionelle Diskriminierung zu finden. Die Anerkennung dieser Probleme als Gemeinschaftsaufgabe kann für einzelne Lehrkräfte oder Schulen eine Entlastung darstellen. Die Umsetzung entsprechender Schulentwicklungsprozesse hängt stark von der politischen Lage ab. Ich blicke diesbezüglich optimistisch in die Zukunft.
“Eine wichtige Rolle spielen Erwartungseffekte. Lehrpersonen begegnen Mädchen und Jungen im naturwissenschaftlichen Unterricht mit anderen Erwartungen, Kindern mit Migrationshintergrund oder körperlicher Behinderung wird weniger zugetraut.”
Vielleicht nicken die Studis an der Bundeswehr-Uni in Hamburg zustimmend zu solchen Aussagen. Dass sie im Dunstkreis einer PH in der Schweiz erscheinen, finde ich einfach nur beschämend.