Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen sollen nicht gesondert, sondern innerhalb der Regelklasse unterrichtet werden. Das ist das Ziel des Integrativen Unterrichts. An der Primarschule Dättlikon nimmt man diese Aufgabe sehr ernst. Einblick in den Schulalltag von Heilpädagogin Iris Wegmann.
«Wo ist Lionel?» Iris Wegmann schaut fragend in die Runde. Die meisten Kindergartenkinder haben schon im Kreis Platz genommen. Einige kommen auf den letzten Drücker aus der Zehn-Uhr-Pause ins Zimmer gestürmt. Lionel scheint nicht dabei zu sein. «Na gut, dann fangen wir ohne ihn an», meint Wegmann und legt eine kleine runde Schachtel in die Mitte des Kreises. «Wir machen heute ein Spiel.»
Erziehung geht über Beziehung
Wegmann ist Heilpädagogin und Förder-Lehrperson. Sie kennt jede Schülerin und jeden Schüler im Primarschulhaus Dättlikon persönlich und weiss alle 112 Namen. Umgekehrt wird auch sie im Gang von allen Seiten mit einem «Grüezi, Frau Wegmann» gegrüsst. Die Heilpädagogin begleitet die Kinder jeder Klasse und über alle Stufen hinweg, unabhängig davon, ob sie Integrative Förderung (IF) beanspruchen oder nicht. Das hat einen guten Grund: «Wenn es irgendwo brennt – sei es, weil es einen Konflikt in der Klasse gibt oder weil ein Kind Lernschwierigkeiten hat –, werde ich geholt. Dann ist es wichtig, dass ich bereits einen Draht zu den Schülerinnen und Schülern habe und sie mir vertrauen. Nur so kann ich helfen, Probleme zu lösen. Erziehung geht eben über Beziehung.»
Und noch etwas kommt hinzu: Die Intervention der Heilpädagogin bedeutet nicht gleich den Ausnahmezustand. «Es ist für die Kinder ganz normal, dass ich in der einen oder anderen Schulstunde dabei bin oder für einen Teil der Lektion dazustosse», sagt Wegmann. In der Primarschule Dättlikon nennen sie dies «das Prinzip der offenen Türen und fliessenden Übergänge». Weil die sonderpädagogische Begleitung geschickt in den Unterricht integriert ist, fällt sie als solche kaum auf – was der Stigmatisierung entgegenwirkt.
Die Schule Dättlikon ist damit ein gutes Beispiel für gelungene Integration. Die PH Zürich arbeitet schon seit 2012 mit ihr zusammen und schickt Studierende im Rahmen des Vertiefungsmoduls Sonderpädagogik für ein Kurzpraktikum dorthin. «Ziel ist, dass die angehenden Lehrpersonen einerseits Einblick in die heilpädagogische Tätigkeit erhalten und sehen, wie man Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen unterstützen kann», sagt André Kunz, Dozent für Sonderpädagogik an der PH Zürich. «Andererseits sollen sich die Studierenden auch einen Eindruck davon machen, wie Förderplanung und Integration auf der gesamtschulischen Ebene funktionieren.»
An diesem Freitag begleiten fünf Studentinnen Iris Wegmann in ihren Lektionen. Während insgesamt drei Schultagen beobachten sie die Heilpädagogin bei der Arbeit und machen Notizen für ihren Praktikumsbericht. «Aus dieser Perspektive nimmt man die Verhaltensweisen und Bedürfnisse der Kinder besser wahr, als wenn man selber unterrichtet», findet Studentin Judith Baschnagel, die mit dem Gedanken spielt, eine heilpädagogische Ausbildung zu machen. «Wir sind heute zum zweiten Mal hier und ich bin gespannt, ob sich meine Vermutungen aus der ersten Begegnung mit den Schülerinnen und Schülern bestätigen.» Die Studentinnen sind aber nicht nur Zuschauerinnen, sondern springen ein, wenn Wegmann sie zur Unterstützung in den Unterricht einbindet. So auch beim Spiel im Kindergarten.
Kein faires Spiel
«Ihr seid die Burg», sagt Wegmann zu den Kindern, die auf dem Boden um die Schachtel sitzen und sich, einen geschlossenen Kreis bildend, an den Händen fassen. Lionel, der etwas verspätet auch noch dazugestossen ist, steht daneben. «Du wirst versuchen, in die Burg hineinzukommen», erklärt ihm Wegmann. «Dazu musst du herausfinden, wo deine Gspänli das Schloss zur Burg angebracht haben.» Das Schloss kann zum Beispiel am Kopf sein oder am Hals, am Rücken, am Bauch, am Arm oder am Fuss. «Du fragst also, wo das Schloss ist und berührst eines deiner Gspänli am entsprechenden Körperteil.» Die Kinder nicken. Es kann losgehen. Einer nach dem anderen macht sich auf die Schatzsuche. «Isches de Chopf?», fragt Lionel und berührt eine Mitschülerin am Kopf. «Neeeiii», rufen die Kinder im Kreis. «Isches de Buuch?» – «Jaaa». Die Arme gehen nach oben, als würde sich das Tor zur Burg öffnen. Lionel kriecht hinein und klaubt einen Schoggi-Taler aus der Schachtel. Nicht allen gelingt es, in drei Versuchen den richtigen Ort zu erraten. Manche gehen leer aus und sind dementsprechend enttäuscht.
Was scheinbar unfair ist, hat durchaus seinen Zweck: «Die Kinder müssen lernen, geduldig zu sein und mit Frust umzugehen», sagt Wegmann. Man kann schliesslich nicht immer gewinnen, im Burgspiel genauso wenig wie im wahren Leben. Darüber hinaus fördert das Spiel soziale Kompetenzen: Die Gruppe muss sich auf einen Ort für das Schloss einigen. Und durch das Berühren lernen die Kinder, Nähe zuzulassen. «Diese Stunde dient der Prävention», sagt die Heilpädagogin. «Die Schülerinnen und Schüler können hier viel mitnehmen, um später im Unterricht und im Klassengefüge besser klarzukommen.»
Gleichzeitig bietet sich Wegmann mit solchen Formaten die Gelegenheit, bei den Kindern potenzielle sonderpädagogische Bedürfnisse frühzeitig aufzuspüren. Ein Beispiel ist etwa der Leseclub, den alle Lernenden wöchentlich besuchen. «In der engen Begleitung der Schülerinnen und Schüler kann ich ihre Lesefähigkeiten prüfen und dadurch Defizite erkennen, die im Klassenunterricht vielleicht eher untergehen.»
Von Lernschwäche bis Schulverweigerung
Die beste Prävention kann nicht verhindern, dass eine Schülerin oder ein Schüler später vielleicht doch einmal sonderpädagogische Bedürfnisse hat. Zurzeit gibt es an der Primarschule Dättlikon 15 Kinder, die Integrative Förderung brauchen. Die Gründe dafür sind vielfältig. «Diese reichen von einer vorübergehenden Lernschwäche bis hin zu Schulverweigerung», erzählt Wegmann. «Ich begegne immer öfters Kindern mit schwierigen Lebensbiografien, die im Unterricht sehr unruhig und unkonzentriert sind. Oder die grosse Mühe haben in der Interaktion mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern.» Die Heilpädagogin unterstützt die «IF-Kinder», wie sie sie nennt, teils während des Klassenunterrichts im Team-Teaching mit der Lehrperson, teils im Einzel- und Kleingruppenunterricht ausserhalb der Klasse. Eine solche ausgekoppelte IF-Lektion steht nun nach der Spielstunde im Kindergarten auf dem Programm.
Entlastung der Klassenlehrperson
Wegmann öffnet die Tür zum Klassenzimmer nebenan, wo der Unterricht bereits läuft, und bittet einen Schüler und eine Schülerin zu sich in den Raum. «Wir fangen heute mit einer Gedächtnisübung an», sagt sie. Die Kinder müssen sich Gegenstände merken, die ihnen die Studentinnen vorsagen, und diese dann in der richtigen Reihenfolge wiedergeben. «Als Merkhilfe können wir die Sachen in einem Körperteil versorgen», rät Wegmann, «den Bleistift zum Beispiel hier.» Sie berührt sich am Hinterkopf, die Kinder tun es ihr gleich.
«Das Mädchen hat Mühe beim Lesen und Aussprechen von Wörtern. Ob es logopädische Unterstützung braucht, wird sich zeigen», sagt Wegmann, während die beiden Kinder mit den Studentinnen laut lesen. Beim Buben sei das Problem sozialer Natur. Er komme mit seinen Klassenkameradinnen und -kameraden nicht klar, sei emotional überfordert und gehe daher sehr ungern zur Schule. «In diesem Fall übernehme ich die Gesamtkoordination. Ich entlaste die Klassenlehrperson in einzelnen Stunden, führe die Elterngespräche und treffe Absprachen mit dem Therapeuten.»
Integration ist Teamsache
Iris Wegmanns Tätigkeit ist äusserst vielseitig – und entsprechend anspruchsvoll. «Ein beachtlicher Teil der Lehrpersonen, die im Kanton Zürich IF-Lektionen unterrichten, verfügen über keine entsprechende Ausbildung», weiss PHZH-Dozent André Kunz. Das bedeute nicht, dass sie ihre Sache schlecht machten. Aber es fehle ihnen doch das spezifische Wissen im Umgang mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen und über diagnostische Instrumente. Wegmann teilt diese Ansicht: «Insbesondere im Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern bringt das Heilpädagogik-Studium enorm viel. In solchen Situationen sind Lehrerinnen und Lehrer ohne eine entsprechende Ausbildung oft überfordert und werden verheizt.» Dabei sind Schülerinnen und Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen nur eine der Herausforderungen, denen Wegmann in ihrem Alltag begegnet. Integrative Förderung sei im Endeffekt vor allem Schulentwicklung, sagt die Heilpädagogin. «Die Frage ist: Wie schaffen wir eine Schule, die Integration ermöglicht?» Mit dieser Frage setzt man sich an der Primarschule Dättlikon seit bald zehn Jahren intensiv auseinander. «Als ich 2006 als IF-Lehrperson angefangen habe, waren nicht alle Kolleginnen und Kollegen gleich offen fürs Team-Teaching», erinnert sich Wegmann. «Einzelne der damaligen Lehrpersonen waren nicht bereit für eine Zusammenarbeit mit mir, wollten ihren Unterricht nicht mit mir planen, gestalten oder reflektieren.» Genau darin sieht auch André Kunz eine Hürde für die Integration: «Unterricht soll persönlich sein, aber keinesfalls Privatsache. Man darf sich nicht gegen Feedback und Kritik von aussen abschotten.»
Das Gärtchendenken abzuschaffen, war keine leichte Aufgabe und kostete Wegmann viel Überzeugungsarbeit und Geduld. «Erst als die Klassenlehrpersonen merkten, dass meine Mitarbeit für sie eine Entlastung bringt, legten sie ihre Vorbehalte ab.» Den Kern der Integration sieht die Heilpädagogin denn auch in der Teamarbeit. Sie entwickelt Programme, macht den Kolleginnen und Kollegen Vorschläge und Angebote. Umgekehrt können diese zu ihr kommen, Bedürfnisse und Probleme anmelden. «Ich sehe meine Aufgabe darin, mein Know-how ins Schulteam einzubringen und gemeinsam eine nachhaltige Lösung zu entwickeln, so dass die Klassenlehrperson eine Situation mittelfristig alleine meistern und ich mich wieder zurückziehen kann.» Feedback ist eine wichtige Grösse in dieser Formel. Innerhalb des Teams wie auch von aussen. «Ich schätze die Zusammenarbeit mit der PH Zürich sehr, denn die Rückmeldungen der Studierenden sind bereichernd und bringen uns weiter», sagt Wegmann. Sie sitzt bereits im nächsten Klassenzimmer und beobachtet, wie die Kinder heiter herumwuseln, als die Glocke ertönt. «Wo ist Michelle?»