Es gibt zahlreiche Lehrpersonen, die auch bemerkenswerte Schriftsteller sind. Offenbar eröffnet der Schulalltag den Zugang zu Sphären des Lebens, die mitteilenswert sind. Jedenfalls werden die Bücher eines Frank McCourt, Daniel Pennac oder Peter Bichsel nicht nur von pädagogisch Interessierten gelesen. Zwar ist diesen Autoren auch gemeinsam, dass sie erst nach Abschluss ihrer Lehrerlaufbahn zu publizieren begannen. McCourt meinte dazu lapidar, sein Kopf sei nach einem Schultag «randvoll vom Radau im Klassenzimmer» gewesen. Dies habe es unwahrscheinlich gemacht, «dass man sich am Feierabend mit einem klaren Kopf zu Hause hinsetzt und unsterbliche Prosa schmiedet». Keiner Lehrperson braucht diese Gemütslage näher erläutert zu werden.
Bei mir gehört nicht einmal die Lektüre von einigermassen Gehaltvollem zum Feierabendritual. Selten und kostbar sind die Momente, in denen ich den Griff ins Büchergestell wage. Und dann kann es sogar vorkommen, dass das Lesevergnügen zum Erkenntnisgewinn gedeiht. So geschehen vorletzte Woche, als ich Stefan Zweigs «Schachnovelle» vom Staub befreite und mit steigendem Genuss verschlang. Es war ein Nebenstrang seiner Erzählung, der mich packte: Zweig stellt die Figur Mirko Czentovic vor und entführt den Lesenden ins ländliche Südslawien des anbrechenden 20. Jahrhunderts. Der Dorfpfarrer nimmt den zwölfjährigen Vollwaisen Mirko auf und versucht, ihm die grundlegenden Bildungsgegenstände zu vermitteln – ohne wahrnehmbaren Erfolg. Dem «schwerfällig arbeitenden Gehirn des maulfaulen, dumpfen und breitstirnigen Kindes fehlte jede festhaltende Kraft», lautet Zweigs anschaulicher Befund. Der Pfarrer gönnt sich am Abend etwas Musse, indem er mit dem Dorfpolizisten eine Partie Schach spielt. An einem solchen Abend erfolgt der plötzliche Wandel in Mirkos Leben. Bislang war er nur Zaungast der Schachpartien, der «mit leerem Blick und schweren Lidern» auf das karierte Brett starrte. Nun muss der Pfarrer während einer Partie zur letzten Ölung einer alten Frau aufbrechen, und der Junge übernimmt sein Spiel. Vierzehn Züge braucht er, um den Dorfpolizisten mattzusetzen. Es bleibt nicht sein letzter Sieg, von nun an führt sein Weg direkt aus der südslawischen Provinz an die Spitze der Schachwelt.
Die Geschichte von Mirko Czentovic hat mich amüsiert und berührt. Der unverhoffte Ausbruch seiner verborgenen Begabung steht im Kontrast zu meinem Unterrichtsalltag: Ich bin der Experte für arrangiertes Lernen. Ich begründe die Auswahl der Lerngegenstände, setze griffige Ziele und versuche regelmässig, die Lernfortschritte zu ermitteln. Vor lauter didaktischer Organisation laufe ich Gefahr, das Unberechenbare am Kind geringzuschätzen. Als Didaktiker droht mir ein Leitgedanke der pädagogischen Psychologie abhanden zu kommen: nämlich die Erkenntnis, dass kindliches Lernen nicht linear verläuft. Gerade wesentliche Lernschritte erfolgen überraschend, sind begleitet von Krisen und Konflikten. Bei aller Professionalität, mit der ich mich hoffentlich von Mirko Czentovics Pfarrer-Hauslehrer abhebe – diese Episode ruft mir in Erinnerung, dass die Entwicklung des kindlichen Denkens auch versierten Fachpersonen weitgehend verborgen bleibt.
Übrigens: In unserem Schulhaus haben wir einen Schachclub gegründet. Kürzlich bin ich zum Simultanschach gegen Agim, Rovena, Thanuna und Dennis angetreten. Fast wäre es mir wie Stefan Zweigs Dorfpolizisten ergangen.
Das Wunder um Mirko Czentovic
Mario Bernet ist Primarlehrer im Schulhaus Sihlfeld und Praxisdozent an der PH Zürich.