Der Übergang vom Schulzimmer in die Arbeitswelt ist für Lernende und Ausbildner gleichermassen eine Herausforderung. «Akzente» hat Spengler-Lehrling Nico Jucker und seinen Lehrmeister und Berufsschullehrer Martin Truninger an zwei Tagen begleitet.
- Foto: Niklaus Spoerri
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- Nico Jucker und Lehrmeister Martin Truninger bei der Arbeit auf dem Dach. Nico Jucker: «Ich musste mich an den Rhythmus zuerst gewöhnen.» Foto: Niklaus Spoerri
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- Nico Jucker gefällt es gut in der Lehre. Das Handwerkliche liegt ihm: «Im Büro zu sitzen wäre nichts für mich.» Foto: Niklaus Spoerri
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- Einmal pro Woche unterrichtet Martin Truninger an der Berufsschule: «Hier geht es vom ersten Tag an um die Wurst», sagt er. Auf dem Stundenplan steht heute Fachzeichnen. Foto: Niklaus Spoerri
Höhenangst darf ein Spengler nicht haben. Nico Jucker, 16, seit einem halben Jahr in Ausbildung, steigt das Baugerüst hoch und klettert auf den Dachgiebel des Einfamilienhauses. Die Dachkante muss mit Metallleisten abgedichtet werden. Kollege Marcel Sommer und Lehrmeister Martin Truninger sind bereits am Werk. «Die Schulzeit war auf jeden Fall lockerer», meint Nico schmunzelnd. «Ich musste mich erst an den Rhythmus des Arbeitsalltags gewöhnen. Man muss immer mitdenken, immer bereit sein, mitanzupacken. Man trägt mehr Verantwortung.» Speditiv wird gehämmert, gebohrt und geschraubt. Die Arbeit muss fertig werden, bevor der Regen kommt. Der wolkenverhangene Himmel wird immer grauer, der Wind frischt auf. Aus der Ruhe lassen sich die drei Männer davon aber nicht bringen – die Arbeit muss fertig werden, aber auch ordentlich gemacht sein. Kurz vor 17 Uhr ist es geschafft. Truninger und seine Lehrlinge packen ihr Werkzeug in den Wagen und fahren zurück in die Spenglerei. Erste dicke Regentropfen klatschen auf die Windschutzscheibe.
Mit Köpfchen und Biss
Zurück im Betrieb ist noch nicht Feierabend. Erst geht es ans Aufräumen und Vorbereiten für den nächsten Tag. «Gute Vorbereitung ist das A und O», sagt Martin Truninger. Denn wann die Spengler zum Einsatz kommen, lässt sich nicht genau voraussagen. Das ist vom Wetter abhängig und vom Stand der Zimmermanns- und Maurerarbeiten. «Wir müssen immer alles bereithalten, damit wir jederzeit auf die Baustellen fahren können.» In raumhohen Regalen lagern ordentlich sortiert Rinnen und Winkel, Rohre und Bleche, bedarfsgerecht zugeschnitten, gebogen oder verschweisst. Im fünf Mann starken Familienbetrieb, den Martin Truninger in zweiter Generation seit zwölf Jahren führt, werden nahezu alle Spenglerteile selber angefertigt – auch da müssen die Lehrlinge ran.
«Nico, kannst du mir kurz helfen?», fragt Marcel Sommer, in der linken Hand ein Kupferrohrstück, in der rechten einen Ausweit-Bohrer. Nico ist sogleich zur Stelle und hält das Rohr fest, während sein Kollege die eine Öffnung ausweitet, damit man es später mit einem anderen Rohr zusammenstecken kann. «Ich wusste, dass ich etwas Handwerkliches machen will», sagt Nico. «Im Büro sitzen ist nichts für mich. Ich bin lieber draussen. Ausserdem ist es ein gutes Gefühl, am Ende des Tages zu sehen, was man produziert hat.» Zum Spenglerberuf kam er eher auf Umwegen. «Zuerst wollte ich Töffmechaniker werden, weil ich in der Freizeit Motocross fahre. Aber beim Schnuppern habe ich gemerkt, dass mich diese Arbeit nicht so begeistert.» Als Nächstes schnupperte er in einem Maurerbetrieb, war aber auch da nicht überzeugt. Schliesslich versuchte er sein Glück bei der Spenglerei Truninger. Nach mehreren Probetagen wusste er: Das passt. «Ich habe mich auf Anhieb wohl gefühlt im Betrieb und gesehen, dass mir die Arbeit liegt. Der Spenglerberuf ist sehr vielseitig, das gefällt mir.»
Auch der Chef ist zufrieden. Nico sei sehr engagiert und beherrsche die Techniken schon ziemlich gut, dafür, dass er die Lehre erst vor vier Monaten angefangen habe. «Es ist immer wieder ein schöner Erfolg, wenn man einen guten Lehrling findet», sagt Martin Truninger. Er legt grossen Wert darauf, dass interessierte Sekundarschülerinnen und -schüler mehrere Tage im Betrieb schnuppern. Nur so können sich beide Seiten sicher sein, ob es passt. «Die Schulnoten sind auf jeden Fall ein Kriterium. Viel wichtiger sind uns aber Interesse, Durchhaltewillen und Engagement. Auch auf Selbständigkeit kommt es uns an. Wir wollen keine Handlanger, sondern Leute, die selber denken.»
Fingerspitzengefühl und Geduld
Nico nutzt den ruhigen Moment kurz vor Feierabend, um noch ein bisschen zu üben. Er schnappt sich ein kurzes Kupferrohrstück und macht sich an der Sickenmaschine zu schaffen. «Damit kann ich die Blechkante zu einem Bord formen.» Martin Truninger schaut ihm über die Schulter. «Gib nur ganz leicht Druck und lass das Rohr langsam rotieren», rät der Chef, «das Material sagt dir, wie schnell du es laufen lassen kannst.» Nach und nach biegt sich die kreisförmige Kante des Zylinders nach aussen ab – leider nicht ganz gleichmässig. Das Bord ist leicht verzogen. Nico schaut seinen Chef fragend an. «Das kannst du nur noch von Hand mit dem Hammer schlichten», sagt Truninger und klopft ihm auf die Schulter. Die Metallbearbeitung braucht manchmal viel Fingerspitzengefühl und Geduld. «Als Spengler muss man auch feine Arbeiten beherrschen, weil es auf der Baustelle immer wieder Situationen gibt, in denen man improvisieren und auch mal eine Detaillösung bringen muss.» Truninger holt eine geometrisch perfekte, kupferne Teekanne aus dem Regal. «Solche Gegenstände waren früher gefragt, heute will sie keiner mehr. Trotzdem fertigen die Lehrlinge ab und zu eine solche Teekanne oder eine Vase an, um den Umgang mit dem Metall zu üben und ihr räumliches Vorstellungsvermögen zu trainieren.»
Lernen wird erfolgsrelevant
Zwei Tage später. Es ist Mittwoch, Berufsschultag. «Nehmt bitte eure Zeichnungen hervor.» Martin Truninger steht vor der Berufsschulklasse. Rund ein Dutzend Spenglerlehrlinge – darunter auch eine Frau – sitzen ihm gegenüber. In der letzten Doppellektion steht Fachzeichnen auf dem Stundenplan. Einige schlagen sofort ihre Zeichenmappe auf, andere kramen einen zerknautschten Papierbogen aus dem Rucksack. Martin Truninger geht durch die Tischreihen, schaut sich die Hausaufgaben eine nach der anderen an und macht sich Notizen. So sorglos wie die Aufbewahrung ist teilweise auch die Ausführung. «Meiner Erfahrung nach macht ein Drittel die Aufgaben sehr gut, ein Drittel halbherzig und ein Drittel gar nicht», sagt er, nachdem er seinen Rundgang beendet hat. Aus der Ruhe bringt ihn das schon lange nicht mehr. Er unterrichtet seit sieben Jahren an der Berufsschule in Winterthur und hat viele Lernende begleitet. Zu denken gibt ihm die Gleichgültigkeit mancher Jugendlicher trotzdem. «Einigen merkt man an, dass sie in der Sekundarschule keine Verantwortung für ihre Leistungen übernehmen mussten.»
In der Berufsschule weht ein rauherer Wind. «Hier geht es vom ersten Tag an um die Wurst», sagt der Lehrer. Was die jungen Berufsleute bei Martin Truninger im Unterricht lernen, ist praxisrelevant und entscheidet mitunter auch darüber, ob sie gute oder schlechte Spengler werden – ob sie später einen Job finden oder nicht. Wem dieses Umdenken in den ersten Monaten der Lehre nicht gelingt, läuft Gefahr, den Anschluss zu verpassen und riskiert damit nicht zuletzt seine Lehrstelle. «Das sage ich meinen Schülerinnen und Schülern immer wieder.» Nico gehört zu jenen Lernenden, welche die Sache sehr ernst nehmen – was nicht heisst, dass er während des Unterrichts nicht auch mal herumalbert. Aber genauso schnell, wie er einen lustigen Spruch von sich gibt, fokussiert er sich wieder auf die Aufgabe. Konzentriert zieht er mit dem Lineal eine Linie und konstruiert präzise den Grundriss eines geometrischen Körpers. «Ich strenge mich hier mehr an als in der Sekundarschule», meint er. «Weil mir der frontale Unterricht besser gefällt als das freie Arbeiten in der Sek. Und weil mir meine Lehre echt wichtig ist – ich will ein guter Spengler werden.»
Falsche Vorstellungen
Im Alter von 16 Jahren entscheiden zu müssen, welche berufliche Richtung man einschlagen will, ist eine Herausforderung, für viele Jugendliche wohl eine Überforderung. «Verdient man gut?», sei oft eine der ersten Fragen bei der Lehrstellenwahl, weiss Martin Truninger. «Auf jeden Fall verdient man nur dann gut, wenn man selbständig und effizient arbeitet und engagiert ist.» Lernende setzten sich zum Teil zu wenig mit der Frage auseinander, was sie eigentlich wollen und was sie wirklich interessiert. «Ich habe immer wieder den Eindruck, dass die Schülerinnen und Schüler bei der Berufswahl noch besser begleitet werden müssten. Denn oft haben sie – und auch ihre Eltern – falsche Vorstellungen davon, was man für eine bestimmte Ausbildung mitbringen muss.» Zum Beispiel, dass Berechnungen und geometrisches Denken ein nicht zu unterschätzender Teil des Spengleralltags sind. Wenn jemand schlecht ist im Rechnen und kein räumliches Vorstellungsvermögen hat, sei Spengler der falsche Beruf. «In meinem ersten Lehrlingszug hatte ich einen Schüler, der wollte etwas Kreatives machen», erinnert sich Truninger. «Das Zeichnen lag ihm, aber handwerklich war er nicht talentiert. Ich habe ihm das ganz ehrlich gesagt und ihm dazu geraten, eine andere Lehre zu machen. Schliesslich wechselte er zu einer Coiffeur-Ausbildung und ist heute superzufrieden mit seinem Beruf.» Es wird unruhig im Klassenzimmer. Der Schultag neigt sich dem Ende entgegen. Die meisten haben bereits ihre Sachen gepackt und springen auf, als der Gong ertönt. Einige aber nehmen es gemütlich und nutzen den Moment, um mit Martin Truninger zu fachsimpeln oder zu scherzen. «Er ist ein Praktiker, einer von uns. Er begegnet uns auf Augenhöhe. Das kommt gut an», meint Nico und schwingt lässig seinen Rucksack über die linke Schulter. «Tschau Martin», sagt er auf dem Weg zur Tür. «Tschau Nico», entgegnet Truninger, «bis morgen in der Werkstatt.»