Die Leistungsbeurteilung ist eine Gratwanderung. Den Spagat zu schaffen zwischen individueller Förderung und Selektion, stellt für angehende wie auch für erfahrene Lehrpersonen eine Herausforderung dar. Erste Schulen sind deshalb daran, neue Wege in der Beurteilungspraxis zu beschreiten.
- Foto: Reto Klink
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Transparent, vergleichbar, an Lernzielen orientiert und auf die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet: So soll die Leistungsbeurteilung im Klassenzimmer sein. Von dem, was die Volksschulgesetzgebung des Kantons Zürich postuliert, ist man in der Praxis allerdings teilweise noch ziemlich weit entfernt. Das zeigen die Berichte der Fachstelle für Schulbeurteilung (FSB), die im Auftrag der kantonalen Bildungsdirektion die Zürcher Volksschulen evaluiert. Mit Schulbesuchen und Befragungen von Schulleitungen, Lehrpersonen, Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern ermittelt die FSB, wie es um die Schul- und Unterrichtsqualität steht – dazu gehört auch die Leistungsbeurteilung.
«Bei der ersten Evaluationsrunde 2008/2009 haben nur gerade 10 Prozent der untersuchten Schulen die Kriterien für eine gute Beurteilungspraxis erfüllt», sagt Jürg Frey, Leiter der FSB. Die übrigen schnitten genügend bis ungenügend ab. Zu wünschen übrig liess die Beurteilung insbesondere punkto Transparenz. An vielen Schulen teilten die Lehrpersonen der Klasse die Lernziele, die geprüft und bewertet werden sollten, nicht klar mit. In den meisten Fällen wussten die Schülerinnen und Schüler während der Prüfung auch nicht, welche Punkte-zahl sie für eine genügende Note erreichen mussten. Das habe sich mittlerweile deutlich gebessert, sagt Frey. Als die FSB dieselben Schulen vier Jahre später erneut unter die Lupe nahm, konnte sie bereits 30 Prozent eine gute Beurteilungspraxis attestieren. Die Beurteilung sei nicht nur transparenter geworden, «wir haben auch festgestellt, dass die Schülerinnen und Schüler vermehrt aufgefordert werden, sich selber zu beurteilen, und das auch besser können als vor vier Jahren». Trotz der erfreulichen Fortschritte bleibt weiterhin Handlungsbedarf. «Die meisten Schülerinnen und Schüler sind nach wie vor der Meinung, dass die Lehrperson ihnen bei der Rückgabe der Prüfung nicht erkläre, was sie genau falsch gemacht haben oder in welchem Bereich sie sich verbessern müssen. Es mangelt also an der förderorientierten Rückmeldung.»
Spagat zwischen Förderung und Selektion
Förderorientiert heisst, jedes Kind in seinem Lernprozess zu begleiten und die individuellen Lernfortschritte zu würdigen. Mit Lernkontrollen und Prüfungen lässt sich diese individuelle Entwicklung nur bedingt sichtbar machen. Und objektiv sprich vergleichbar benoten lässt sie sich erst recht nicht. Ein lernschwaches Kind kann trotz grosser Fortschritte immer noch hinter einem lernstarken Kind, das sich nur wenig verbessert hat, zurückliegen. Am Ende entscheidet aber die Leistung im Klassenvergleich darüber, wer gut und wer schlecht abschneidet. Selbst wenn ein Kind sehr viel dazugelernt hat, kann ihm die Lehrperson unter Umständen trotzdem keine bessere Note geben.
«Das ist ein Spannungsfeld», weiss Marlen Fiechter, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Weiterbildungsbereich «Unterricht und Lernen» an der PH Zürich. «Selbst gestandene Lehrpersonen, die seit vielen Jahren unterrichten, haben mir erzählt, dass es eine Herausforderung sei, diesen Spagat zwischen individueller Förderung und Selektion zu schaffen.» Dabei sei man im Kanton Zürich nicht verpflichtet, während des Schuljahres Noten zu geben, erst am Ende müsse man aufgrund einer Gesamtbeurteilung Zeugnisnoten setzen. Das macht es aber nicht unbedingt einfacher. Insbesondere gegenüber der Elternschaft müssten sich Lehrpersonen für ihre formativen Beurteilungsmethoden rechtfertigen, weiss Fiechter. Das stellt auch Jürg Frey immer wieder fest: «Eine formative Beurteilung ist für viele Eltern nur schlecht nachvollziehbar. Unter einer Note, die aufgrund einer Prüfung zustande gekommen ist, können sie sich hingegen etwas vorstellen.» Dabei werde jedoch ausser Acht gelassen, dass eine Note im Bezug auf die schulische Leistung wenig aussage, gibt Marlen Fiechter zu bedenken.
Gegen die altbekannte Notengebung von 1 bis 6 – so umstritten diese unter Lernenden, Eltern und Pädagogen auch sein mag – haben förderorientierte Instrumente im Schulalltag einen schweren Stand. Nicht zuletzt, weil Lernjournale, Selbstbeurteilung oder Portfolios aufwendiger zu kontrollieren und zu kommentieren sind als eine simple Lernkontrolle. Es stellt sich also die Frage: Wie kann man die Förderorientierung fördern?
Eine beste Praxis gibt es nicht
Ein möglicher Weg ist, das Thema konsequent in der Aus- und Weiterbildung aufzugreifen. So geschieht es an der PH Zürich. Im Rahmen des Weiterbildungsangebots beraten Fachleute Lehrpersonen und Schulen in Beurteilungsfragen und begleiten sie bei der Umsetzung in der Praxis. Derweil setzen sich die Studierenden während ihrer Ausbildung in verschiedenen Modulen intensiv mit den allgemeinen Funktionen und Methoden, den fachspezifischen und sonderpädagogischen Anforderungen der Leistungsbewertung auseinander. Dabei lernen sie in erster Linie eins: Die beste Praxis gibt es nicht. «Sie werden nie eine einzige Beurteilungsform finden, die für jede Schülerin und jeden Schüler, für jede Lehrperson und jede Situation im Schulalltag funktioniert», sagt Christoph Schmid, Leiter des Fachbereichs «Bildung und Erziehung» an der PH Zürich. Obwohl sich die PH Zürich in der Lehre für die formative Beurteilung stark macht, ist es Schmid ein Anliegen, dass die Notengebung im Studium nicht vernachlässigt wird. Gegen Ende des Studiums übernehmen die Studierenden der Primar- und Sekundarstufe im Rahmen eines Vikariates eine Schulklasse. «Da sind sie auf sich allein gestellt, müssen gewisse Dinge prüfen und bewerten, auch mit Noten. Das ist wichtig. Denn sie müssen lernen, damit umzugehen, dass sich Noten negativ auf die Motivation der Lernenden auswirken können», sagt Schmid. Seines Erachtens sind summative, also notengebende Verfahren, genauso notwendig wie formative Instrumente, haben vergleichende Betrachtungen genauso ihre Berechtigung wie individuelle Standortbestimmungen oder standardisierte Messungen à la Klassencockpit. Entscheidend sei, dass man sich bewusst mache, was man eigentlich messen und beurteilen will und was man damit bei einem Kind bewirkt. «Die Beurteilung muss letztlich immer ein Feedback sein, das für weiterführendes Lernen hilfreich ist.» Das sollen die Studierenden mitnehmen. Und die Offenheit, verschiedene Beurteilungsformen anzuwenden und selber zu entwickeln.
Natürlich erhoffe man sich von den jungen Lehrpersonen, dass sie neuen Input ins Kollegium bringen, sagt Marlen Fiechter, die selber auch als Primarlehrerin tätig ist. Sie warnt aber davor, zu grosse Erwartungen in die Abgängerinnen und Abgänger zu setzen. «Wer frisch von der Hochschule kommt und in den Schulalltag einsteigt, hat erst einmal viel damit zu tun, sich mit der Klasse und im Schulteam zurechtzufinden.» Die guten Vorsätze, förderorientiert zu beurteilen und den individuellen Bedürfnissen aller Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden, bleiben im Trubel des Schulalltags – verständlicherweise – allzu oft auf der Strecke. Wie kann man hier Gegensteuer leisten? «Meine Erfahrung hat gezeigt, dass es eine Schulleitung braucht, die das Thema ernst nimmt und die Beurteilungsfragen nicht nur den einzelnen Lehrpersonen überlässt, sondern schulweit koordiniert und gewisse Absprachen trifft», sagt Jürg Frey von der FSB. Damit weist er auf einen weiteren zentralen Punkt der Bildungsdebatte hin: Die Vergleichbarkeit von Beurteilungen.
Während Lehrplan und Lehrmittel dafür sorgen, dass die Kinder kantonsweit dieselben Lerninhalte erarbeiten, erfolgt das Abrufen und Bewerten des Gelernten in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Ausmass. Da liegt die Frage nahe: Wie viel ist eine Note wert, wenn man bei Frau Meier für eine 5 viel mehr können muss als bei Herrn Müller? Wenn man bei Herrn Huber ständig Lerntests schreiben, bei Frau Hugentobler aber nur ein Lernjournal führen muss? Um mehr Transparenz, Vergleichbarkeit und nicht zuletzt auch mehr Gerechtigkeit zu schaffen, plädieren Fachleute wie Jürg Frey und Marlen Fiechter dafür, dass schulintern die Beurteilung einheitlicher gestaltet wird.
Schulhaus Hutten macht’s vor
Ein Beispiel, das Schule machen könnte, ist die Primarschule Hutten in Zürich-Oberstrass. Seit rund zwei Jahren arbeitet das Lehrerteam klassen- und stufenübergreifend an einem einheitlichen Beurteilungssystem. «Es fing damit an, dass die meisten unserer Lehrerinnen und Lehrer in ihren Klassen Selbstbeurteilungen durchgeführt haben. Die Beurteilungsbögen dafür haben sie untereinander immer mehr angeglichen», erzählt Rita Ackermann. Die Schulleiterin, die selber auch unterrichtet, hat diese Ansätze unterstützt und die Erarbeitung einheitlicher Beurteilungskriterien vorangetrieben. «Die offenen Unterrichtsformen, ein Markenzeichen unserer Schule, stellten für eine einheitliche Beurteilung aber eine zusätzliche Herausforderung dar», sagt Rita Ackermann. Deshalb habe sie eine Weiterbildung im Bereich Unterrichtsentwicklung absolviert. Die gewonnenen Erkenntnisse und Ideen diskutierte sie im Team, um einheitliche Beurteilungskriterien für die Schule Hutten zu definieren. Vorbild dafür ist das Dialogische Lernkonzept.
Das funktioniert so: Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten offene Aufträge und dokumentieren ihre Lösungswege, Ideen und Gedankengänge in einem Lernjournal, das die Grundlage bildet für den Austausch in der Gruppe und mit der Lehrperson. Der Clou dabei: Dem didaktischen Konstrukt liegt ein ausgeklügeltes Beurteilungsraster zugrunde, das es der Lehrperson erlaubt, die formative Beurteilung der Lernjournale mit der summativen Beurteilung von Lernkontrollen zu verrechnen.
Das ändert allerdings nichts daran, dass die Bewertung der Lernjournale recht subjektiv bleibt. Ackermann ist sich dessen bewusst und hat auch dafür eine Lösung: «Wir schauen uns in den pädagogischen Teams immer wieder gemeinsam Auszüge aus einem Lernjournal an und vergleichen unsere Beurteilungen, um auch da eine möglichst einheitliche Wahrnehmung zu schaffen.» Die Kinder äusserten sich zufrieden mit dem neuen System, sagt die Schulleiterin. «Sie verstehen, wie es funktioniert, und können es gut nachvollziehen.»
Absprachen hat die Schule Hutten auch bezüglich Feedback zu Lernkontrollen getroffen. «Während des Schuljahres geben wir den Schülerinnen und Schülern in der Regel keine Note. Sie erfahren nur, wie viele Punkte sie erreicht haben, und erhalten förderorientierte Rückmeldung», sagt Ackermann. Die Lehrperson mache sich Notizen zu den Leistungen, um am Ende des Semesters für die Gesamtbewertung von Lernjournalen, Lernkontrollen und Projektarbeiten eine Zeugnisnote machen zu können.
Eine Frage von Aufwand und Ertrag
Einfach sei die Erarbeitung einer einheitlichen Beurteilungspraxis nicht, räumt Rita Ackermann ein. «Sie bedingt, dass die Lehrpersonen mit viel Engagement und Durchhaltewillen mitziehen.» Nicht alle waren dazu bereit. «Für ein paar Kolleginnen und Kollegen gingen die Absprachen zu weit, sie sahen sich in ihrer Methodenfreiheit eingeschränkt und wechselten die Schule.» Dafür kamen andere, die sich von der gemeinsamen Sache angesprochen fühlten. «Wir haben unserer Schule ein Profil, eine Identität gegeben, wir sprechen dieselbe Sprache, treten gegen aussen als Einheit auf», sagt Ackermann. «Dies ist für die einzelnen Lehrpersonen sehr entlastend.» Etwa im Dialog mit der Elternschaft, die sehr interessiert, aber auch kritisch sei.
Für die Schule Hutten ist die Rechnung aufgegangen. Christoph Schmid mahnt jedoch zur Vorsicht mit Beurteilungsreformen und aufwendigen Bewertungskonzepten. «Am Ende entsteht eine Beurteilungslawine, der man als Lehrperson nicht mehr gewachsen ist. Wie schaffen Sie es als Lehrperson, jedes einzelne Kind zu beobachten, seine individuelle Entwicklung zu bewerten und gleichzeitig noch zu unterrichten? Da haben Sie früher oder später ein Wahrnehmungsproblem.» Für den Pädagogik-Professor steht fest: Aufwand und Ertrag müssen stimmen, «das sage ich auch den Studierenden immer wieder.» Solange der Unterricht verbessert werden könne, seien ausgefeilte, formative Verfahren durchaus sinnvoll. «Wenn die Lehrperson aber die Freude am Unterrichten verliert, weil sie ständig irgendetwas bewerten muss, dann ist es Zeit, nach einem einfacheren Beurteilungsprozedere zu suchen.»
Es müsse nicht immer ein schulweit einheitliches System sein, sagt Marlen Fiechter. Auch einfache Abmachungen mit der Parallelklassen-Lehrperson oder im Stufenteam würden schon viel bringen. «Eine Schule kann zum Beispiel vereinbaren, wie viele Prüfungen die Lehrpersonen schreiben lassen und welche Lernziele man prüfen will, welches die Beurteilungskriterien sind oder wie der Notenmassstab gesetzt wird.» Auch die Klasse einmal ein Lernziel mitbestimmen oder sich selber beurteilen lassen, bedeute keinen Riesenaufwand für die Lehrperson. «Wenn eine Schule für solche kleinen Schritte offen ist und sich kritisch mit ihrer Beurteilungspraxis auseinandersetzt, ist sie auf gutem Weg», sagt Fiechter. «Beurteilung ist ein äusserst vielfältiges pädagogisches Thema, das grosses Potenzial bietet, sich als Lehrperson und gemeinsam als Schule weiterzuentwickeln.»