Nicht aus dem Regal im Supermarkt, sondern aus Ställen kommen Milch und Fleisch. Das weiss heute nicht mehr jedes Kind. Hier setzt das Projekt «Schule auf dem Bauernhof» an. Ein Nachmittag mit PHZH-Studierenden der Eingangsstufe auf dem städtischen Gutsbetrieb Juchhof.
- Die Studierenden im Kaninchenstall. Der Kontakt mit den Tieren kann bei den Schulkindern Berührungsängste abbauen. Foto: Niklaus Spoerri
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- Aus den gepflückten Früchten stellen die Studierenden eigenhändig Traubensaft her. Foto: Niklaus Spoerri
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- Bettina Kellenberger vom Gutsbetrieb Juchhof beantwortet die Fragen der Besucherinnen und Besucher. Foto: Niklaus Spoerri
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- Die Studentinnen und Studenten erfahren auf dem Juchhof auch einiges über die Tierhaltung und die Fleischproduktion auf dem städtischen Gutsbetrieb. Foto: Niklaus Spoerri
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- Spezielles Erlebnis: Auf dem Bauernhof können die Studierenden der PH Zürich Erfahrungen im Melken sammeln – an einer mit Wasser gefüllten Euterattrappe. Foto: Niklaus Spoerri
Nein, idyllisch ist es nicht. Der städtische Gutsbetrieb Juchhof liegt nahe an der Zürcher Stadtgrenze zu Schlieren, umgeben von Fussballfeldern, Strassenbrücken und Bahngleisen. Über dem Dach des Kuhstalls ragt die Fassade des Post-Verteilzentrums Mülligen hervor, und von der Strasse dröhnt der Baulärm so stark auf den Hof, dass die Studierenden, die an diesem sonnigen Herbstnachmittag herkamen, Bettina Kellenberger kaum verstehen.
Da wo jetzt die leeren, eingezäunten Fussballplätze stehen, sei vor acht Jahren noch Weideland gewesen, erklärt diese. Sie selbst war damals noch nicht hier. Erst seit drei Jahren leitet die ausgebildete Primarlehrerin und Naturpädagogin für Grün Stadt Zürich unter anderem im Rahmen des Programms «Schule auf dem Bauernhof» Besuche für Schulkinder. 3600 von ihnen kommen jährlich hierhin. Bettina Kellenberger ist es wichtig, dass die Kinder auf dem Hof mithelfen dürfen, viel Kontakt mit Tieren haben und einen respektvollen Umgang mit Nutztieren kennen lernen. Heute hat sie jedoch keine Schülerinnen und Schüler vor sich. Die angehenden Lehrpersonen der Eingangsstufe tragen Lederjacken, Sonnenbrillen und Schals. Und sie werden umgetrieben von ganz bestimmten Fragen: «Werden diese Tiere gemästet?» fragt eine Studentin und zeigt auf die in der Sonne liegenden Schweine.
Teilnehmerzahlen steigen jährlich
Fragen nach der Herkunft und Produktionsweise unserer Nahrung sind für Corin Bieri, Dozentin für «Mensch und Umwelt» und Projektverantwortliche für «Schule auf dem Bauernhof» an der PH Zürich zentral. «Es ist wichtig, dass die Kinder die Zusammenhänge verstehen», sagt sie und meint auch: Es ist nicht selbstverständlich, dass Kinder wissen, dass die Milch im Frühstücksmüsli von einer Kuh kommt, dass das Kotelett auf dem Teller mal einem Schwein gehörte. Deshalb fordert Bieri ihre Studierenden auf: Geht mit den Kindern raus, zum Beispiel auf den Bauernhof. «Es ist unser Ziel, die angehenden Lehrkräfte für dieses Projekt zu begeistern.» Das Projekt «Schule auf dem Bauernhof» (SchuB) ist schweizweit angelegt. Im Kanton Zürich arbeiten das Kantonale Amt für Landschaft und Natur, der Zürcher Bauernverband, die PH Zürich und Grün Stadt Zürich zusammen, unterstützt vom Volksschulamt. Sie stellen Angebote für Schulklassen und Kindergärten bereit wie geführte halb- oder ganztägige Besuche, aber auch Aus- und Weiterbildungskurse für Lehrkräfte und Bauersleute.
Mit dem Programm ein Zeichen setzen
Das Programm ist erfolgreich. Die Zahlen der Schulklassen und Kindergärten, welche einen Bauernhof besuchen, steigen jährlich. «Zudem», so Bieri, «wählen in Praktika immer mehr Studierende das Thema Bauernhof und organisieren für ihre Praktikumsklassen Besuche auf SchuB-Betrieben.» Im Studium für angehende Lehrpersonen der Eingangsstufe ist das Thema in der Fachdidaktik «Mensch und Umwelt» fest verankert. Dass dies wichtig ist, davon ist auch Urs Bisang, Dozent für Fachdidaktik in «Mensch und Umwelt» und Kollege von Corin Bieri, überzeugt. Er begleitet die Studierenden auf dem Juchhof. Mit dem Besuch an diesem Nachmittag – bereits in der zweiten Studiumswoche – wolle man ein Zeichen setzen, sagt auch er. Lernen geschieht am wirkungsvollsten vor Ort. Hier, vor ihrer Haustür, können die Kinder die ganze Komplexität der Landwirtschaft erfahren. Hier können sie Kaninchen füttern, Pferde striegeln und Früchte ernten. «Wir wollen, dass es nicht nur bei den Internetbildern bleibt», sagt Bisang. Und weiter: «Wenn diese jungen Menschen in wenigen Jahren ihr Studium abschliessen, woran erinnern sie sich wohl besonders gut?» fragt er rhetorisch. «Natürlich an den Besuch auf dem Bauernhof und an die Wirksamkeit dieser Lernerfahrung.» So werden sie auch eher mit den eigenen Schülerinnen und Schülern rausgehen, um in authentischen Situationen, im Wald, im Quartier, in Spitälern sinnliche Lernerfahrungen zu machen.
Kritische Fragen zur Tierhaltung
«Ich finde es super hier!» ruft eine Studentin euphorisch. «Ich liebe diese Luft!» Sie hat soeben ihre Hand in den Mund eines Kälbchens gehalten, das lange und eifrig daran genuckelt hat. Nun trieft Speichel von den langen, lackierten Fingernägeln. Das Klischee der realitätsfremden Städterin trifft auf sie nicht zu. Sie habe mit ihrer Familie früher Bauernhof-Ferien gemacht. Eine andere Studentin erzählt, dass sie auf dem Land aufgewachsen sei: «Gleich neben einem Bauernhof, die Kühe konnten richtig Radau machen.» Die Kühe hier auf dem Juchhof sind an diesem Nachmittag etwas unruhig. Eine Viehschau steht an und immer wieder holen Angestellte Kühe aus dem Laufstall, um sie zu striegeln und zu putzen.
Bettina Kellenberger beantwortet die kritischen Fragen der Studierenden geduldig. Sie drehen sich in erster Linie um die Tierhaltung. Bevor die Gruppe in den Kuhstall und zu den Kälbern gegangen war, hatte Kellenberger den Hof in Zahlen vorgestellt. Sie erklärte, dass ein Schwein einen täglichen Gewichtszuwachs von 800 Gramm erfahre und bei einem Körpergewicht von 110 Kilogramm den Hof verlassen müsse. «Seht ihr die mit dem blauen Streifen auf dem Rücken?» fragt sie und zeigt zu den Maststallungen, wo die Schweine liegen und grunzen. Die sind nicht mehr lange hier.» Das Schweinefleisch werde unter dem Label Naturafarm hergestellt. «Da stelle ich mir aber eher Tiere auf einer Wiese vor», meint eine Studentin. «Ein wichtiges Thema», wird Kellenberger später sagen. Sie begegnet ihm mit nüchterner Transparenz und erklärt: Die Konsumenten wollen günstiges Fleisch, günstige Milch. Deshalb muss die Produktion schnell gehen.
Auf die Methode kommt es an
Die Führung durch den Kuhstall dauert eine Weile. Hin und wieder zücken die Studierenden ihre Smartphones, um ein Foto zu schiessen. Eine Kuh ist hochträchtig, und gerade als Kellenberger die Gruppe die Anzahl der Wiederkäuungsbewegungen zählen lassen will, setzen die Wehen ein. Die Augen der angehenden Lehrpersonen leuchten erwartungsfroh und mitleidig, doch Kellenberger nimmt ihnen ihre Hoffnungen gleich wieder: «Solange wir hier sind, wird sie noch nicht gebären. Die Kuh wird sich einen ruhigeren Moment suchen.»
Kellenberger führt die Studierenden nun zu den Reben, wo sie Trauben pflücken und daraus ihren eigenen Saft pressen. Die Studentinnen und Studenten machen sich sogleich an die Arbeit. Die beiden Gruppen entwickeln dabei unterschiedliche Methoden. Bei den einen geht es etwas schneller, die anderen schütten sich den Saft über die Hände. «Ladys, wie läuft’s?» fragt einer der zwei jungen Männer der Gruppe. Zur selben Zeit füttern andere Studierende im Kleintierstall die Kaninchen. Kellenberger will bei Kindern, welche den Umgang mit Tieren nicht gewohnt sind, mit den Kaninchen Berührungsängste abbauen und gleichzeitig den Respekt vor den Tieren bewahren. Diese haben immer auch Rückzugszonen. Die Studierenden müssen sie deshalb hervorlocken. Sie versuchen es mit aufgespiessten Karotten und Gräsern und erfahren dabei nicht nur etwas über die Tiere, sondern auch über einander. «Ich habe ein Pferd», erzählt die eine. «Ich bin allergisch auf Äpfel», die andere. Sie kennen sich erst seit zwei Wochen und Corin Bieri hat den Bauernhofbesuch absichtlich derart früh angesetzt. Die gemeinsamen Aktivitäten an der frischen Luft fördern das Kennenlernen.
Milchproduktion im 21. Jahrhundert
Nach einer Pause mit selbstgepresstem Traubensaft, Käse, Brot und Äpfeln geht es zurück zum Kuhstall. In einem Nebenraum steht eine Maschine, gross wie ein Minivan, darum herum ranken sich Schläuche und Kabel. Die Pumpen zischen, und unten ragen vier Beine hervor: der Melkroboter. Die Hälfte der Gruppe steht davor und staunt, während die andere Hälfe sich draussen beim Wassermelken an den Euterattrappen vergnügt. Die Kühe kommen selbständig zum Roboter, sie reihen sich ein, wissen, dass sie Kraftfutter erhalten, und sie wollen sich ja auch der Milch entledigen, erklärt Kellenberger. Der Roboter erkennt mit dem Laser die Zitzen und steuert die Saugvorrichtung zielgenau dahin. Wenn mal etwas nicht so funktioniere, wie es müsse, erscheine eine Meldung auf dem Smartphone eines Angestellten. Milchproduktion im 21. Jahrhundert. Während der Melkwettbewerb draussen in einer Wasserschlacht endet, wird drinnen konzentriert weitergefragt.
Kurz darauf ist der Besuch zu Ende. Die Studierenden erhalten Aufträge für die folgende Woche: eine konkrete Aktivität mit Anknüpfung an den Bauernhof zuhause vorbereiten und dann der Klasse beibringen. Urs Bisang zeigt sich zufrieden mit dem Nachmittag und ist überzeugt: Jeder Bauernhof ist ein spannender, relevanter Mikrokosmos, der aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Bevor sie auseinandereilen, bedanken sich die Studierenden bei Bettina Kellenberger. Einige von ihnen werden wohl später mit eigenen Klassen Bauernhöfe besuchen. Denn vieles, was sie an diesem Nachmittag erfahren haben, geht ihnen wohl so schnell nicht aus dem Kopf: das Gefühl beim Anblick des nuckelnden Kälbleins, die Frische des Traubensafts, das Rattern des Melkroboters.