Wenn ich Schulen besuche und Lektionen von angehenden Lehrerinnen und Lehrern beobachte, interessiert mich immer auch der Kontext, in dem diese Schulstunden stattfinden. Was für eine Stimmung spürt man im Schulhaus? Wie gehen die Lehrpersonen miteinander um, wie verhalten sich die Jugendlichen in den Pausen? In Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen wird vieles klar. Sie erzählen mir präzis, was an ihrer Schule funktioniert und worauf sie stolz sind, aber auch, was schwierig ist und wo sie anstehen.
Bei einem meiner letzten Besuche war ich in einer Zürcher Vorortsgemeinde mit einem Touch von Banlieue. Auf jeden Fall war es für mich zwar nicht selbstverständlich, aber doch auch nicht überraschend, dass die jungen Leute der 2. Sek B eher in den Bänken hingen als sassen und dass sie nicht so wirkten, als wollten sie etwas lernen.
Jeder von uns hat schon Kinder gesehen, die sich mit totaler Hingabe über ein Buch beugen oder die sich durch nichts ablenken lassen, wenn sie ein Geschicklichkeitsspiel machen. Dazu war die Klasse das Kontrastprogramm. Begriffe wie «Migrationshintergrund» und «bildungsfern» sind mir beim Anblick der Klasse kurz durch den Kopf gegangen, aber sie helfen wenig, weil sie sich in undifferenzierte Schlagworte verwandelt haben, die nur scheinbar etwas erklären und die keine Assoziationen für Lösungen freisetzen.
Der Klassenlehrer schilderte den schwierigen Background verschiedener Knaben und Mädchen differenziert und ohne Rückgriff auf obige Klischees. Die Lebenslage der jungen Leute erhielt Konturen, ihre Biographien nahmen Gestalt an, der individuelle Aspekt ihrer Demotivation wurde nachvollziehbar und ihre Verhaltensoriginalität erschien schon fast folgerichtig.
Irgendwann kam er dann auf seine eigene Familie zu sprechen und darauf, dass seine Kinder demnächst eingeschult werden. «Jetzt, wo’s um meine eigenen Kinder geht», meinte er, «jetzt überlege ich mir tatsächlich, ob wir umziehen sollen.» Eigentlich habe er sich ja immer für eine gesunde Durchmischung in den Gemeinden ausgesprochen. Als Lehrer und linksliberal eingestellter Bürger sei es ihm wichtig, dass die Schule eine Basiserfahrung für das Zusammenleben von verschiedenen sozialen Schichten in unserer Gesellschaft garantiere.
Das Dilemma findet in der Person des Lehrers statt – und in seiner Familie. Eine innere Unruhe und leichte Selbstvorwürfe wird er kaum vermeiden können. Entweder weil er die eigenen Kinder in seiner Gemeinde in eine schulische Umgebung gibt, deren lernförderliche Qualität er bezweifelt, oder weil er wegzieht und seine eigenen Ideale nicht gerade verrät, aber doch deutlich ankratzt. Die Frage wird zwischen ihm und seiner Frau diskutiert werden, auch mit den Kindern, was meint ihr, wollen wir mal woanders wohnen, vielleicht in der Stadt, in Höngg vielleicht? Möglicherweise vergeht die Zeit und das Problem löst sich von selbst. Es ist nicht so einfach, eine ideale neue Wohnung zu finden. Am Ende bleibt man, wo man ist.
Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte ich zur vorliegenden Frage ein eindeutiges Urteil gehabt, heute schrecke ich davor etwas zurück. Was meinen Sie?