Ein fachdidaktisches Forschungsprojekt der PH Zürich untersucht Geschichtslehrmittel seit 1830: Wie verändern sich die Vorstellungen vom erstrebenswerten schulischen Wissen und Können?«Besitzen unsere Schulgeschichtsbücher noch den Charakter eines Geschichtsbuches, oder haben sie ihn bereits verloren?» fragte der deutsche Historiker Hans-Jürgen Pandel 2011 in einer Standortbestimmung geschichtsdidaktischer Forschung provokativ. Der streitbare Doyen der Geschichtsdidaktik vermisst in aktuellen Lehrmitteln die spezifisch historische Perspektive. Mit den heutigen Schulbüchern könne zwar «ganz gut gelernt» werden, doch es bestünden Zweifel, dass «es sich dabei tatsächlich um Geschichte» handle.
Nachdenken über Vergangenheit
Ausgangspunkt des Forschungsprojektes «Historisch-politische Bildung in Deutschschweizer Lehrmitteln seit 1830» der PH Zürich ist die mit den Stichworten «Lehrplan 21» und «Kompetenzorientierung» umrissene Umbruchphase: In welche Richtung entwickelt sich der Geschichtsunterricht? Welche Konzepte sollen den künftigen Lehrmitteln zu Grunde liegen? Die Analyse historischer Problemlösungen hilft, den heutigen Handlungsspielraum zu umreissen und mögliche Antworten auf diese Fragen zu finden. Die breite Palette der im Untersuchungszeitraum erschienenen Geschichtslehrmittel zeigt modellhaft mögliche Varianten auf, in welchem Verhältnis Lehrmittel zur wissenschaftlichen Disziplin stehen können oder wie junge Menschen zum Nachdenken über die Vergangenheit angeregt und zu verantwortungsvollem Handeln erzogen werden. Eingebunden ist das Projekt der PH Zürich in ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Forschungsprojekt zum Thema «Transformation schulischen Wissens seit der Einführung der Volksschule».
Glühende Herzen – nüchterner Verstand
Die Erwartungen an die Fächer wandeln sich: Geschichtslernen wurde seit 1830 abwechselnd als Gesinnungs-, Pauk- oder Denkfach definiert und sollte glühende Patrioten oder verantwortungsbewusste Republikaner, objektive Geschichtsforscher oder kritische Zeitgenossen heranbilden. In Umrissen lässt sich dieser Wandel zum jetzigen Zeitpunkt des Forschungsprojekts bereits skizzieren: 1833 wird den «geliebten Söhnen und Töchtern des Vaterlandes» im Schulbuch von Helden- und Schandtaten der Vorfahren erzählt, damit sie dereinst die «Irrthümer der Väter» meiden und nach deren Weisheit trachten (Mütter bleiben unerwähnt). Für Religion und Sittlichkeit, Recht, Freiheit und Vaterland sollten sie sich «glühend, muthig» stürzen «selbst in den Tod». Bereits im 19. Jahrhundert wird das ungebrochen moralisierende Lehrmittel von einer nüchternen Gattung kontrastiert: Prominente Universitätsprofessoren streben wissenschaftliche Objektivität an und verfassen geradezu erschlagend umfangreiche Lehrmittel für die Volksschule. Die Schulbücher pendeln zwischen wissenschaftlicher und populärer Ausrichtung.
Besonders eingehend werden Phasen des Auf- und Umbruchs analysiert: Etwa die 1930er Jahre, als dem Geschichtsunterricht eine zentrale Rolle in der «Geistigen Landesverteidigung» zukam. Die wissenschaftsorientierte «geschichtliche Objektivität» geriet unter Beschuss, weil sie nicht ans Gewissen appelliere. Die Generation nach 1968 lehnte hingegen Moralkeule und Indoktrination prinzipiell ab und wollte durch Quellenanalyse an die wissenschaftliche Arbeitsweise heranführen. Es entstanden Arbeitsbücher, die den Autorentext auf eine «eiserne Ration Fakten» reduzierten und Auszüge aus Quellen (Bildern, Karten und Grafiken) zusammenstellten, die von Schülerinnen und Schülern selbst zu entschlüsseln waren. (Die Anleitung zur Analyse wurde bald zum systematischen Methodenlernen ausgebaut.) In der Gegenwart ist nun eine erneute Hinwendung zur Urform des Fachs zu erkennen, dem historischen Erzählen. Wie ist Geschichte zu erzählen, von und für junge Menschen? Erste Ergebnisse sind 2015, im dritten Projektjahr, zu erwarten.