Zwischen Pestalozzi und Ottmar Hitzfeld

Mario Bernet – aus dem Leben eines Lehrers

Mario Bernet – aus dem Leben eines Lehrers

Feierabend. Ich bin mit dem Tag einigermassen im Reinen, als ich gegen 18.30 Uhr das Schulhaus verlasse. Der eine oder andere Vorfall des vergangenen Schultags beschäftigt mich noch ein wenig, aber auch das verraucht allmählich, als ich in Richtung Bahnhof Hardbrücke schlendere.

«Grüezi Herr Bernet!» Der junge Mann, der mich herzlich grüsst, ist einen halben Kopf grösser als ich. Namen sind meine Schwäche, ich brauche immer Wochen, bis ich die Vornamen einer Schulklasse beherrsche, und mögen sie noch so wohlklingend sein. Aber wenn ich sie eingeprägt habe, dann bleiben sie. «Guten Abend Amidou (alle Namen geändert)!», grüsse ich ohne Zögern zurück. Es folgt ein kurzes, herzliches Gespräch. Er berichtet von seinem Beruf, den er dank seines Körperbaus gelassen meistert: Strassenbauer, ein Spezialist für Kreisel sei er geworden. Er erklärt mir, was ein guter Strassenkreisel ist. Und ich freue mich, dass vor mir ein Experte steht. Ein Berufsmann, der am Abend eine freundliche Müdigkeit und Zufriedenheit ausstrahlt. Ich erinnere mich an jenen Amidou, der früher nach der Pause oft eskortiert von der Aufsicht ins Klassenzimmer zurückkehrte, weil ihm seine Kraft und Ungeduld in die Quere gekommen waren. Schwamm drüber.

Dann unvermittelt: «Machen Sie sich keine Sorgen, vielleicht hätte ich damals auch so gehandelt an Ihrer Stelle.» Beiden ist sofort klar, welche Begebenheit er anspricht. Damals, Anfang Juli, waren wir in der Finalrunde des Fussballturniers der Stadtzürcher Schulen angelangt. Es war ein Festtag. Die Sportanlage Hardhof vibrierte, alle hatten sich mit Hingabe vorbereitet. Der Bratwurstduft verzückte die Nasen, die Jugend hatte sich mit sauren Zungen, türkisfarbigen Getränken und bunten Fussballschuhen für die Spiele gerüstet. Das Team unserer sechsten Klasse hatte das Halbfinale erreicht, das sich nun dem Ende zuneigte. Wir führten ungefährdet 2:0. Ich stand als Lehrer und Coach an der Seitenlinie und genoss, wie sich die sonst unsteten Jungs als Einheit zeigten. Drei Minuten vor dem Abpfiff wagte ich den Schritt: Ich wechselte Ben und Branislav ein. Ich wollte die beiden unerfahrenen Spieler am Erfolg teilhaben lassen, schliesslich hatten sie immer mittrainiert. Prompt geriet unser Spiel aus dem Gleichgewicht und endete 2:2. Das anschliessende Penaltyschiessen ging verloren, Endstation. Amidou war unser Unglücksschütze, er fiel hin und grub sein weinendes Gesicht in den Rasen. Damit das Turnier fortgesetzt werden konnte, mussten wir ihn vom Platz tragen. Selten sah ich meine Autorität so in Frage gestellt wie an jenem Samstag, an dem ich mich freiwillig von der Lehrer- in die Trainerrolle begeben hatte und diese im entscheidenden Moment vermischte.

Wieder ist Frühsommer, alle reden wieder vom Fussball-Schüeli und vom grossen Turnier in Brasilien. Beides drängt in die Schulstube. Keine Frage, unbelehrbar nehme ich die Herausforderung auch diesmal an: Wir gehen mit zwei Teams an das Turnier und setzen eine Sportlektion pro Woche zur Vorbereitung ein. Eifrig trainieren die Buben und Mädchen Flachpass, Freilaufen und Kondition. Und wie immer zeigt sich, dass Spiel und Wettstreit heftige Gefühle wecken. Also sprechen wir auch über Fairplay, über Respekt gegenüber dem Gegner und dem Schiedsrichter. Ob dieser Teil der Lektion verstanden wurde, wird sich Ende Juni weisen. Ich nehme mir vor, als richtiger Fussballlehrer aufzutreten: erfolgreich und gerecht. Gut möglich, dass ich erneut scheitere.

Mario Bernet ist Primarlehrer im Schulhaus Sihlfeld und Praxisdozent an der PH Zürich.