Erstaunlich gesittet verläuft der kleine Klassenrat, den ich nach Marianas (alle Namen geändert) vertraulichem Bericht einberufen habe. Der Reihe nach versuchen die fünf Jungs und drei Mädchen nachzuzeichnen, mit welchen Sprachfetzen sie sich am Vortag in einem Chatroom gegenseitig eingedeckt haben. Rashid fand offenbar, dass er Mariana mit anzüglichen Bemerkungen auf sich aufmerksam machen könne, was eine grobe Antwort nach sich zog. Diese brachte Rashid in Rage, und zwei seiner Kollegen rieten ihm, eine abschätzige Bemerkung in Richtung Marianas Mutter anzubringen. Mariana konterte, indem sie Rashids verbale Ausrutscher auf seine Hautfarbe zurückführte. Das wiederum fand dieser gar nicht lustig. Kurzerhand bot er per Handy seine Kollegen auf, um Mariana und ihre Kolleginnen aufzusuchen und handfest die Ehre seines Kontinentes zu verteidigen. Ich beschränke mich darauf, alle zu Wort kommen zu lassen. Mir wird klar: Der Streit hat sich zwar in der Freizeit zugetragen, aber dessen Aufarbeitung hat in der Schule zu erfolgen. Das geschieht denn auch und endet in einem versöhnlichen Treffen aller Beteiligten, auch der Eltern.
Der zweite Vorfall ist unauffälliger, dafür aber tägliche Realität: Unsere 6. Klasse findet sich um 8.20 Uhr ein, um den Tag zu eröffnen. Mein Blick in die Runde bleibt bei Bekim hängen. Seine tiefen Augenringe deuten darauf hin, dass er in der vergangenen Nacht hart zu schuften hatte. Meine besorgte Frage klärt er in der Pause auf: Er liege schweizweit auf Rang 79 im Online-Game «Battlefield Heroes», und an dieser Position habe er während Stunden gefeilt.
Was ich bei Mariana, Rashid, Bekim und ihren Kolleginnen und Kollegen beobachte, dürfte die Spitze des Eisberges sein, wenn wir den Zahlen des Gehirnforschers Manfred Spitzer glauben: Über sieben Stunden beträgt die Mediennutzung von deutschen Jugendlichen pro Tag. In Zürich dürfte das nicht viel anders sein. Das bedeutet im Klartext: Wenn unsere Jugend nicht gerade schläft oder in der Schule ist, dann sitzt ein Grossteil davon vor Bildschirmen oder Displays.
Als ich meinen vierzehnjährigen Sohn aus den Fängen des Internetkraken zu retten versuche, indem ich sein Smartphone konfisziere, bekomme ich das Büchlein «Erfindet euch neu!» in die Hand. Michel Serres, ein Schwergewicht der französischen Philosophie, hat es geschrieben. Er konstatiert darin eine digitale Revolution, die in ihrer Tragweite mit der Erfindung der Schrift vergleichbar sei. Serres klagt nicht, er staunt über die Fingerfertigkeit der Kinder, die über ihren Daumen mit der Welt verbunden sind. Und er ahnt, dass sich eine neue Welt auftut: «Die Kinder haben sich im Virtuellen eingerichtet. Sie können mehrere Informationen gleichzeitig aufnehmen. Sie erkennen, verarbeiten, synthetisieren anders als wir, ihre Vorgänger. Sie haben nicht mehr den gleichen Kopf, sie wohnen nicht mehr im gleichen Raum, sie sprechen nicht mehr die gleiche Sprache.» Begeistert bekennt Serres: «Ich wäre gerne achtzehn, so alt wie die kleinen Däumlinge, jetzt, da alles zu erneuern, ja erst noch zu erfinden ist.» Serres hat einiges gesehen in seinem langen Philosophenleben. Grund genug, seinen Optimismus ernst zu nehmen.
Ich würde Michel Serres gerne zu mir ins Schulhaus einladen, um ihn mit Bekim ins Gespräch zu bringen. Und würde er den Chat von Mariana und Rashid auch so zuversichtlich kommentieren?